5A_801/2022: Befristung des nachehelichen Unterhalts (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 5A_801/2022 vom 10. Mai 2024 legt das Bun­des­gericht die Kri­te­rien für eine zeitliche Begren­zung des nachehe­lichen Unter­halts dar. Im konkreten Fall erachtet es die Befris­tung des nachehe­lichen Unter­halt­sanspruchs bis zur Vol­len­dung des 16. Alter­s­jahrs des gemein­samen Kindes als recht­mäs­sig. Weit­er rel­a­tiviert das Bun­des­gericht seine in BGE 148 III 161 begrün­dete Recht­sprechung zum Ver­hält­nis zwis­chen nachehe­lichem Unter­halt und Betreuungsunterhalt.

Zusam­men­fas­sung

Die Beschw­erde­führerin rügte vor Bun­des­gericht die vorin­stan­zliche Befris­tung des nachehe­lichen Unter­halts auf den Zeit­punkt hin, in dem der gemein­same Sohn das 16. Alter­s­jahr vol­len­det haben wird. Sie ver­langte, der nachehe­liche Unter­halt sei bis zum Ein­tritt in ihr ordentlich­es Rentenal­ter festzuset­zen. Die für die Beant­wor­tung dieser Frage rel­e­van­ten Umstände wur­den von der Vorin­stanz wie fol­gt fest­gestellt: Die gemein­sam gelebte Ehe dauerte effek­tiv rund sieben Jahre, die darauf­fol­gende Tren­nungszeit knapp sechs Jahre. Die Beschw­erde­führerin arbeit­ete bis kurz vor der Geburt des gemein­samen Kinds während 15 Jahren zu 100 % in ihrem erlern­ten Beruf als kaufmän­nis­che Angestellte. Nach der Geburt arbeit­ete sie während sechs Jahren nicht mehr ausser­häus­lich. Im Zeit­punkt der Tren­nung war sie 39 Jahre alt.

Das Bun­des­gericht stellte vor­ab klar, dass die Ehe der Parteien aus Sicht der Beschw­erde­führerin als leben­sprä­gend zu beze­ich­nen ist und sie entsprechend grund­sät­zlich Anspruch auf nachehe­lichen Unter­halt hat. Die Beschw­erde­führerin sei ab Geburt des gemein­samen Kind bis zur Tren­nung, mithin während sechs Jahren, keine Erwerb­stätigkeit nachge­gan­gen und habe sich der Kinder­be­treu­ung gewid­met, was der Beschw­erdegeg­n­er geduldet habe. Auf­grund dieser Betreu­ungsregelung habe die Vorin­stanz denn auch das Schul­stufen­mod­ell auf die Aus­dehnung der Beruf­stätigkeit der Beschw­erde­führerin anbe­langt. Damit sei die Ehe der Parteien ent­ge­gen der Ansicht des Beschw­erdegeg­n­ers lebensprägend.

Betr­e­f­fend die zeitliche Befris­tung erwog das Bun­des­gericht, gestützt auf die Bes­tim­mungen zum nachehe­lichen Unter­halt sei nicht nur zu entschei­den, ob nachehe­lich eine Unter­halt­spflicht beste­he und gegebe­nen­falls in welch­er Höhe, son­dern auch wie lange ein Unter­halts­beitrag zu leis­ten sei. Auch die leben­sprä­gende Ehe schliesse eine angemessene zeitliche Begren­zung der nachehe­lichen Unter­halt­spflicht nicht aus. Es han­dle sich dabei um einen Ermesse­nentscheid, in den das Bun­des­gericht nur zurück­hal­tend ein­greife (E. 5.5.1 f.). Von der Frage der zeitlichen Begren­zung sei die Frage zu unter­schei­den, ob über­haupt noch nachehe­lich­er Unter­halt geschuldet sei. Die Pflicht, solchen zu leis­ten, könne näm­lich auch deshalb dahin­fall­en, weil die Leis­tungs­fähigkeit der unter­haltss­chulden­den Partei abnehme. Eben­so ende der Unter­halt­sanspruch, sofern die unter­halt­sansprechende Partei auf­grund ein­er verbesserten Eigen­ver­sorgungska­paz­ität mit seinem eige­nen Einkom­men den zulet­zt gemein­sam gelebten Stan­dard zu finanzieren ver­möge (E. 5.6). Die Angemessen­heit der Unter­halts­dauer ergebe sich aus einem Zusam­men­spiel der in Art. 125 Abs. 2 ZGB genan­nten Kri­te­rien (E. 5.7).

Mass­gebend sei vor­ab die Dauer des ehe­lichen Zusam­men­lebens. Je kürz­er die Ehe gelebt wor­den sei, desto weniger lange sei in der Regel die Unter­halt­spflicht aufrechtzuer­hal­ten. Umgekehrt recht­fer­tige es sich, die Unter­halt­spflicht bei län­gerem ehe­lichen Zusam­men­leben entsprechend länger laufen zu lassen. In diesem Sinn könne die Dauer des ehe­lichen Zusam­men­lebens als Richtwert für die Dauer der nachehe­lichen Unter­halt­spflicht gel­ten (E. 5.7.1).

Seit­ens der unter­haltss­chulden­den Partei habe in die Beurteilung einzu­fliessen, ob dieser seine Erwerb­skraft (haupt­säch­lich) dank der während des ehe­lichen Zusam­men­lebens prak­tizierten Auf­gaben­teilung steigern kon­nte und dieser auch nach der Schei­dung noch von sein­er beru­flichen Entwick­lung prof­i­tiere. Habe sich die während des ehe­lichen Zusam­men­lebens prak­tizierte Auf­gaben­teilung beson­ders gün­stig auf die Einkom­menssi­t­u­a­tion der unter­haltss­chulden­den Partei aus­gewirkt, recht­fer­tige sich eine länger dauernde Unter­halt­spflicht (E. 5.7.2).

Mass­gebend sei fern­er, ob die unter­halt­sansprechende Partei prog­nos­tisch ihre (hypo­thetis­che) Erwerb­skraft (wieder) herzustellen und auszuschöpfen in der Lage sei (E. 5.7.3). Dabei sei eine allfäl­lige Erwerb­s­be­hin­derung durch Kinder­be­treu­ung zu berück­sichti­gen. Selb­st bei kurzem ehe­lichen Zusam­men­leben dauere der Anspruch auf nachehe­lichen Unter­halt bis zu jen­em Zeit­punkt, ab welchem die (erwerb­srel­e­van­ten) Kinder­be­treu­ungsauf­gaben ent­fall­en, d. h. gemäss Schul­stufen­mod­ell grund­sät­zlich bis zum vol­len­de­ten 16. Alter­s­jahr des jüng­sten gemein­samen Kindes (E. 5.7.3.1). Ausser­dem falle das Alter der unter­halt­sansprechen­den Partei ins Gewicht (der beru­fliche [Wieder-]Einstieg sei bei jün­geren Per­so­n­en ten­den­ziell leichter als bei älteren), deren Gesund­heit­szu­s­tand (beziehe sie eine volle Inva­lid­ität­srente, beste­he kein Verbesserungspo­ten­tial), die vere­in­barte Auf­gaben­teilung und damit ein­herge­hend die Dauer des Erwerb­sun­ter­bruchs (je länger die unter­halt­sansprechende Partei nicht im Erwerb­sleben ges­tanden habe, desto schwieriger sei der beru­fliche Wiedere­in­stieg), die Art der Aus­bil­dung bzw. der früheren beru­flichen Tätigkeit (welche je nach­dem ihre Aktu­al­ität behalte und an welche angeknüpft wer­den könne) und die Dauer der beru­flichen Tätigkeit vor dem Erwerb­sun­ter­bruch (je länger diese gedauert habe, desto leichter falle das Wieder­anknüpfen an eine sein­erzeit­ige beru­fliche Tätigkeit). Fall­be­zo­gen kön­nen noch weit­ere Gesicht­spunk­te entschei­dend sein (E. 5.7.3.2).

Sollte der nachehe­liche Unter­halt­sanspruch vor­liegend bis zum Ein­tritt der Beschw­erde­führerin in das ordentliche Rentenal­ter gesprochen wer­den, müsste der Beschw­erdegeg­n­er ab dem Tren­nungszeit­punkt während mehr als 25 Jahren Unter­halt­sleis­tun­gen erbrin­gen. Angesichts der Dauer des ehe­lichen Zusam­men­lebens von sieben Jahren gebe dies grund­sät­zliche Anlass zur zeitlichen Begren­zung des nachehe­lichen Unter­halts (E. 5.9).

Das Bun­des­gericht set­zt sich in der Folge mit den Ein­wen­dun­gen der Beschw­erde­führerin zur Befris­tung auseinan­der und urteilt, dass diese den ange­focht­e­nen Entscheid nicht ins Wanken zu brin­gen ver­mö­gen. Die Beschw­erde­führerin zeige nicht auf, dass die Vorin­stanz grund­los von in Lehre und Recht­sprechung anerkan­nten Grund­sätzen abgewichen sei, dass sie Gesicht­spunk­te berück­sichtigt habe, die im konkreten Einzelfall keine Rolle hät­ten spie­len dür­fen, dass sie umgekehrt recht­ser­he­bliche Umstände auss­er Acht gelassen habe oder dass sich der Ermessensentscheid im Ergeb­nis als offen­sichtlich unbil­lig oder ungerecht erweise. Die Rüge betr­e­ff­fend die Befris­tung wird daher abgewiesen (E. 5.9.1–5.9.5).

Bemerkung 

Das Bun­des­gericht zeigt in diesem Urteil erst­mals auf, welche Kri­te­rien die Gerichte bei der Fes­tle­gung der Dauer des nachehe­lichen Unter­halt­sanspruchs zu berück­sichti­gen haben. Es stellt auch klar, dass es sich bei der Befris­tung um einen Ermesse­nentscheid der kan­tonalen Gerichte han­delt, in den es bloss zurück­hal­tend ein­greift. Berück­sichti­gen die Gericht kün­ftig die vom Bun­des­gericht aufgestell­ten Kri­te­rien, wer­den Bun­des­gerichts­beschw­er­den, die sich gegen die zeitliche Befris­tung des nachehe­lichen Unter­halts richt­en, daher regelmäs­sig scheitern.

Bemerkenswert sind im vor­liegen­den Fall die Aus­führun­gen des Bun­des­gerichts zur Leben­sprä­gung der Ehe und zur Dauer des nachehe­lichen Unter­halts bei Kurze­hen. Das Bun­des­gericht qual­i­fiziert die Ehe der Parteien ohne Umschweife als leben­sprä­gend, da die Beschw­erde­führerin bis zur Tren­nung während sechs Jahren kein­er Erwerb­stätigkeit nachge­gan­gen sei und sich während dieser Zeit der Kinder­be­treu­ung gewid­met habe. Aus diesem Grund habe denn die Vorin­stanz für die Aus­dehnung der Erwerb­stätigkeit der Beschw­erde­führerin auch das Schul­stufen­mod­ell ange­wandt. Weit­er hält das Bun­des­gericht fest, dass selb­st bei kurzem ehe­lichen Zusam­men­leben der nachehe­liche Unter­halt bis zu jen­em Zeit­punkt andauere, in welchem die (erwerb­srel­e­van­ten) Kinder­be­treu­ungsauf­gaben gemäss Schul­stufen­mod­ell entfallen.

Damit rel­a­tiviert das Bun­des­gericht impliz­it die mit BGE 148 III 161 begrün­dete Recht­sprechung, wo es erwog, die aus der Kinder­be­treu­ung erwach­se­nen Nachteile wür­den durch den Betreu­ung­sun­ter­halt aus­geglichen und wür­den für sich genom­men eine Ehe nicht als leben­sprä­gend erscheinen lassen (BGE 148 III 161 E. 4.3.1). Die Rel­a­tivierung dieser Recht­sprechung ist zu begrüssen. Der nachehe­liche Unter­halt und der Betreu­ung­sun­ter­halt dür­fen nicht ver­mengt wer­den, zumal bei­de eine unter­schiedliche Ziel­grösse haben. Während der nachehe­liche Unter­halt Anspruch auf den zulet­zt gelebten ehe­lichen Stan­dard (sog. gebühren­den Unter­halt) inklu­sive des Vor­sorge­un­ter­halts ver­mit­telt, ist der Betreu­ung­sun­ter­halt auf das fam­i­lien­rechtliche Exis­tenzmin­i­mum beschränkt. Entsprechend gle­icht der Betreu­ung­sun­ter­halt die durch die Betreu­ungsauf­gaben erwach­se­nen Erwerb­san­teile nur teil­weise aus (BGE 144 III 481 E. 4.8.3). Daher kann der nachehe­liche Unter­halt nicht mit der Begrün­dung ver­weigert wer­den, dass die nachehe­lichen Erwerb­sein­schränkun­gen durch den Betreu­ung­sun­ter­halt abge­golten wer­den (für eine aus­führliche Kri­tik an diesem Urteil siehe Lötscher/Dummermuth, Kinder sind ver­mu­tungsweise leben­sprä­gend – Gedanken zum Ver­hält­nis zwis­chen nachehe­lichem Unter­halt und Betreu­ung­sun­ter­halt, angeregt durch BGE 148 III 161, in: FamPra.ch 1/2023, S.1 ff.).