9C_492/2014: Überwindbarkeitsvermutung gilt nicht mehr (amtl. Publ.)

In einem Grund­satzentscheid hat das Bun­des­gericht die mit BGE 130 V 352 ein­geleit­ete Über­wind­barkeit­srecht­sprechung bei anhal­tend somato­for­men Schmerzstörun­gen geän­dert (Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015). Es reagiert mit dieser Prax­isän­derung auf die anhal­tende Kri­tik an der bish­eri­gen Recht­sprechung bezüglich Invali­den­renten bei äti­ol­o­gisch unklaren Beschwerdebildern.

Eine Mut­ter von sechs erwach­se­nen Kindern meldete sich zum Leis­tungs­bezug bei der Invali­den­ver­sicherung an. Dabei erk­lärte sie, an ver­schiedenar­ti­gen gesund­heitlichen Beschw­er­den zu lei­den, welche sich rasch ver­schlim­merten (u.a. Schmerzen am Rück­en und Extrem­itäten, Schlaf­störun­gen, Kraft­losigkeit und Niedergeschlagenheit).

Die IV-Stelle des Kan­tons Zug holte ein psy­chi­a­trisches Gutacht­en ein und verneinte gestützt darauf eine anspruchs­be­grün­dende Inva­lid­ität. Das Ver­wal­tungs­gericht des Kan­tons Zug wies die dage­gen erhobene Beschw­erde ab. Das Bun­des­gericht hiess demge­genüber die Beschw­erde teil­weise gut und wies die Sache zur Ein­hol­ung eins psy­chi­a­trischen Gerichtsgutacht­ens an das kan­tonale Gericht zurück.

Das Bun­des­gericht erwog, die Frage, ob die Schmerzstörung als Gesund­heits­beein­träch­ti­gung über­haupt sachgerecht fest­gestellt wor­den sei, werde in der Ver­sicherung­sprax­is oft kaum beachtet. Ver­mut­lich werde deut­lich zu häu­fig eine anhal­tende somato­forme Schmerzstörung diag­nos­tiziert (E. 2.1.1). Die Diag­nose ein­er anhal­tenden somato­for­men Schmerzstörung begründe überdies nur dann eine anspruchs­be­grün­dende Inva­lid­ität, wenn die Diag­nose auch den Auss­chlussgrün­den nach BGE 131 V 49 stand­halte. Danach liege regelmäs­sig keine ver­sicherte Gesund­heits­beein­träch­ti­gung vor, soweit die Leis­tungs­beschränkung auf Aggra­va­tion oder ein­er ähn­lichen Erschei­n­ung beruhe (E. 2.2, 2.2.1 und 2.2.2).

Weit­er stellte sich das Bun­des­gericht die Frage, ob an der Ver­mu­tung festzuhal­ten ist, wonach eine anhal­tende somato­forme Schmerzstörung oder ein ander­er äti­ol­o­gisch unklar­er syn­dro­ma­ler Zus­tand mit zumut­bar­er Wil­len­sanstren­gung über­wind­bar sei (E. 3.1).

Nach aus­führlichen Erwä­gun­gen stellte das Bun­des­gericht fest, die Über­wind­barkeitsver­mu­tung sei aufzugeben (E. 3.5). Das bish­erige Regel/Aus­nahme-Mod­ell sei durch einen struk­turi­erten, nor­ma­tiv­en Prü­fungsraster zu erset­zen (E. 3.6 und 5.1). Anhand eines Kat­a­logs von Indika­toren habe kün­ftig eine ergeb­nisof­fene sym­metrische Beurteilung des tat­säch­lich erre­ich­baren Leis­tungsver­mö­gens zu erfol­gen (E. 3.6 und E. 4). Die funk­tionellen Auswirkun­gen ein­er psy­cho­so­ma­tis­chen Störung seien stärk­er als bish­er zu berück­sichti­gen, wozu ein struk­turi­ertes Beweisver­fahren durchzuführen sei (E. 6).

Im konkreten Fall fehlte eine umfassende Beurteilung der rel­e­van­ten Indika­toren, weshalb ein Gerichtsgutacht­en einge­holt wer­den muss (E. 10.1.3).