Eine Klausel in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen im Zusammenhang mit einer kollektiven Krankentaggeldversicherung ist nicht ungewöhnlich, wenn sie einen Leistungsanspruch bei einem unverschuldeten, krankheitsbedingen Freiheitsentzug ausschliesst.
Dem Urteil des Bundesgerichts vom 18. November 2018 lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Versicherte war seit dem 1. September 2013 bei der C. AG (Arbeitgeberin) als Kranführer beschäftigt und über diese bei der B AG (Versicherung) kollektiv krankentaggeldversichert. Aufgrund einer akuten psychischen Dekompensation wurde der Versicherte am 13. April 2017 in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, wo er noch in der gleichen Nacht in schuldunfähigem Zustand einem Mitbewohner Verletzungen insbesondere am Kopf zufügte, an welchen dieser verstarb. Der Kläger wurde vorerst in Obhut der Psychiatrischen Dienste in Bern (UPD) genommen. Nachdem der zuständige Staatsanwalt den vorzeitigen Antritt einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB bewilligt hatte, wurde der Versicherte am 30. Oktober 2017 provisorisch in eine Justizvollzugsanstalt und ab dem 16. Januar 2018 in die Psychiatrische Klinik D (Psychiatrische Dienste Aargau) verlegt. Seit dem 14. April 2017 war eine vollständige Arbeitsunfähigkeit beim Versicherten attestiert.
Daraufhin meldete der Versicherte den Versicherungsfall bei der Versicherung. Diese teilte ihm unter Hinweis auf Art. 4 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) mit, es bestehe ihres Erachtens kein Leistungsanspruch, solange er sich in Untersuchungshaft befinde.
In Art. 4 der AVB war unter dem Titel “Was ist nicht versichert? ” in Ziff. 2 lit. c Folgendes festgehalten:
Eine Arbeitsunfähigkeit, die während der Dauer der Untersuchungshaft, des Vollzuges einer strafrechtlichen Sanktion, die mit einem Freiheitsentzug verbunden ist, sowie des fürsorgerischen Freiheitsentzugs eintritt, bleibt auch nach der Entlassung bis zur Erlangung der vollen Arbeitsfähigkeit von der Versicherung ausgeschlossen.
Ist die Arbeitsunfähigkeit vorher eingetreten, besteht während der Dauer der Untersuchungshaft und des Freiheitsentzuges kein Anspruch auf Taggeld. Die nicht entschädigten Tage werden trotzdem an die jeweils massgebende maximale Leistungsdauer angerechnet.
Der Versicherte erhob Klage gegen die Versicherung beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und verlangte die Zahlung der Krankentaggelder für die Monate Juni und Juli 2017.
Mit Urteil vom 18. April 2019 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Klage ab, mit der Begründung, Art. 4 Abs. 2 lit. c AVB schliesse im vorliegenden Fall einen Leistungsanspruch aus. Mit Entscheid vom 18. November 2019 wies das Bundesgericht die Beschwerde des Klägers ab und bestätigte den Entscheid der Vorinstanz.
Vor Bundesgericht monierte der Versicherte u.a., Art. 4 Abs. 2 lit. c AVB umfasse die krankheitsbedingte unverschuldete Untersuchungshaft nicht; wenn doch, sei sie ungewöhnlich und in Anwendung der Ungewöhnlichkeitsregel nichtig.
In einem ersten Schritt rief das Bundesgericht allgemeine Auslegungsprinzipien in Erinnerung (E. 2.1 und 2.2):
Die allgemeinen Bedingungen eines Versicherungsvertrags werden nach den gleichen Grundsätzen ausgelegt wie andere Vertragsbestimmungen […]. Entscheidend ist demnach in erster Linie der übereinstimmende wirkliche Wille der Vertragsparteien und in zweiter Linie, falls ein solcher nicht festgestellt werden kann, die Auslegung der Erklärungen der Parteien nach dem Vertrauensprinzip […].
Mehrdeutige Klauseln in allgemeinen Versicherungsbedingungen sind nach der Unklarheitenregel gegen den Versicherer als deren Verfasser auszulegen […]. Sie gelangt jedoch nur zur Anwendung, wenn sämtliche übrigen Auslegungsmittel versagen […].
Die Geltung vorformulierter allgemeiner Geschäftsbedingungen wird gemäss der Rechtsprechung durch die Ungewöhnlichkeitsregel eingeschränkt. Danach sind von der global erklärten Zustimmung zu allgemeinen Vertragsbedingungen alle ungewöhnlichen Klauseln ausgenommen, auf deren Vorhandensein die schwächere oder weniger geschäftserfahrene Partei nicht gesondert aufmerksam gemacht worden ist. Der Verfasser von allgemeinen Geschäftsbedingungen muss nach dem Vertrauensgrundsatz davon ausgehen, dass ein unerfahrener Vertragspartner ungewöhnlichen Klauseln nicht zustimmt. Die Ungewöhnlichkeit beurteilt sich aus der Sicht des Zustimmenden im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Für einen Branchenfremden können deshalb auch branchenübliche Klauseln ungewöhnlich sein. Die Ungewöhnlichkeitsregel kommt jedoch nur dann zur Anwendung, wenn neben der subjektiven Voraussetzung des Fehlens von Branchenerfahrung die betreffende Klausel objektiv beurteilt einen geschäftsfremden Inhalt aufweist. Dies ist dann zu bejahen, wenn sie zu einer wesentlichen Änderung des Vertragscharakters führt oder in erheblichem Masse aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus fällt. Je stärker eine Klausel die Rechtsstellung des Vertragspartners beeinträchtigt, desto eher ist sie als ungewöhnlich zu qualifizieren. Bei Versicherungsverträgen sind die berechtigten Deckungserwartungen zu berücksichtigen […].
In einem zweiten Schritt nahm das Bundesgericht eine objektive Auslegung der Ausschluss-Klausel vor und kam zum Schluss, dass die Ausschluss-Klausel eindeutig sei, weshalb die Unklarheitenregel nicht zur Anwendung komme (E. 3.3):
- Die fragliche Ausschluss-Klausel umfasse ausdrücklich sowohl diejenige Arbeitsunfähigkeit, die vor als auch diejenige, die während der Untersuchungshaft oder eines strafrechtlichen/fürsorgerischen Freiheitsentzugs eintritt.
- Nach dem Wortlaut wirke die Klausel sehr umfassend. Sie spricht in allgemeiner Weise vom Freiheitsentzug, ohne eine Unterscheidung in Bezug auf das Verschuldenselement zu treffen. Hinzu komme, dass die Klausel auch den “fürsorgerischen Freiheitsentzug” – mittlerweile gesetzlich als fürsorgerische Unterbringung bezeichnet (vgl. Art. 426 ff. ZGB) – ausdrücklich nennt, der als Massnahme des Erwachsenenschutzes namentlich bei einer psychischen Störung einen Entzug der Freiheit auch gegen den Willen der betroffenen Person erlaubt, sofern die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann.
- Vor diesem Hintergrund sei die Klausel nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang sowie den gesamten Umständen nach Treu und Glauben so zu verstehen, dass sie auch einen unverschuldeten, krankheitsbedingten Freiheitsentzug (in Form einer Untersuchungshaft oder fürsorgerischen Unterbringung) erfassen wolle.
Das Bundesgericht erwog (E. 3.4), dass es zwar zutreffe, dass die Ungewöhnlichkeitsregel grundsätzlich auch Anwendung finden kann, wenn analoge Bestimmungen in den AVB anderer Versicherer vorhanden sind. Auch branchenübliche Klauseln könnten für Branchenfremde ungewöhnlich sein. Doch sei weder ersichtlich noch dargetan, inwiefern die betreffende Klausel nicht nur für eine branchenunerfahrene Person ungewöhnlich sei, sondern auch objektiv beurteilt einen geschäftsfremden Inhalt im Sinne der Rechtsprechung aufweisen würde. Es sei insoweit nicht massgebend, dass der Freiheitsentzug auf eine krankheitsbedingte Anlasstat zurückzuführen ist. Jedenfalls falle die zu beurteilende Ausschluss-Klausel, die auch die vorliegende Ausnahmekonstellation erfasst, weder in erheblichem Masse aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus noch führe sie zu einer wesentlichen Änderung des Vertragscharakters.