4A_232/2019: Ungewöhnlichkeitsregel und Allgemeine Versicherungsbedingungen (Ungewöhnlichkeit verneint)

Eine Klausel in den All­ge­meinen Ver­sicherungs­be­din­gun­gen im Zusam­men­hang mit ein­er kollek­tiv­en Kranken­taggeld­ver­sicherung ist nicht ungewöhn­lich, wenn sie einen Leis­tungsanspruch bei einem unver­schulde­ten, krankheits­be­din­gen Frei­heit­sentzug ausschliesst.

Dem Urteil des Bun­des­gerichts vom 18. Novem­ber 2018 lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Der Ver­sicherte war seit dem 1. Sep­tem­ber 2013 bei der C. AG (Arbeit­ge­berin) als Kran­führer beschäftigt und über diese bei der B AG (Ver­sicherung) kollek­tiv kranken­taggeld­ver­sichert. Auf­grund ein­er akuten psy­chis­chen Dekom­pen­sa­tion wurde der Ver­sicherte am 13. April 2017 in eine psy­chi­a­trische Klinik ein­geliefert, wo er noch in der gle­ichen Nacht in schul­dun­fähigem Zus­tand einem Mit­be­wohn­er Ver­let­zun­gen ins­beson­dere am Kopf zufügte, an welchen dieser ver­starb. Der Kläger wurde vor­erst in Obhut der Psy­chi­a­trischen Dien­ste in Bern (UPD) genom­men. Nach­dem der zuständi­ge Staat­san­walt den vorzeit­i­gen Antritt ein­er sta­tionären Mass­nahme nach Art. 59 StGB bewil­ligt hat­te, wurde der Ver­sicherte am 30. Okto­ber 2017 pro­vi­sorisch in eine Jus­tizvol­lzugsanstalt und ab dem 16. Jan­u­ar 2018 in die Psy­chi­a­trische Klinik D (Psy­chi­a­trische Dien­ste Aar­gau) ver­legt. Seit dem 14. April 2017 war eine voll­ständi­ge Arbeit­sun­fähigkeit beim Ver­sicherten attestiert.

Daraufhin meldete der Ver­sicherte den Ver­sicherungs­fall bei der Ver­sicherung. Diese teilte ihm unter Hin­weis auf Art. 4 der All­ge­meinen Ver­sicherungs­be­din­gun­gen (AVB) mit, es beste­he ihres Eracht­ens kein Leis­tungsanspruch, solange er sich in Unter­suchung­shaft befinde.

In Art. 4 der AVB war unter dem Titel “Was ist nicht ver­sichert? ” in Ziff. 2 lit. c Fol­gen­des festgehalten:

Eine Arbeit­sun­fähigkeit, die während der Dauer der Unter­suchung­shaft, des Vol­lzuges ein­er strafrechtlichen Sank­tion, die mit einem Frei­heit­sentzug ver­bun­den ist, sowie des für­sorg­erischen Frei­heit­sentzugs ein­tritt, bleibt auch nach der Ent­las­sung bis zur Erlan­gung der vollen Arbeits­fähigkeit von der Ver­sicherung ausgeschlossen.

Ist die Arbeit­sun­fähigkeit vorher einge­treten, beste­ht während der Dauer der Unter­suchung­shaft und des Frei­heit­sentzuges kein Anspruch auf Taggeld. Die nicht entschädigten Tage wer­den trotz­dem an die jew­eils mass­gebende max­i­male Leis­tungs­dauer angerechnet.

Der Ver­sicherte erhob Klage gegen die Ver­sicherung beim Sozialver­sicherungs­gericht des Kan­tons Zürich und ver­langte die Zahlung der Kranken­taggelder für die Monate Juni und Juli 2017.

Mit Urteil vom 18. April 2019 wies das Sozialver­sicherungs­gericht des Kan­tons Zürich die Klage ab, mit der Begrün­dung, Art. 4 Abs. 2 lit. c AVB schliesse im vor­liegen­den Fall einen Leis­tungsanspruch aus. Mit Entscheid vom 18. Novem­ber 2019 wies das Bun­des­gericht die Beschw­erde des Klägers ab und bestätigte den Entscheid der Vorinstanz.

Vor Bun­des­gericht monierte der Ver­sicherte u.a., Art. 4 Abs. 2 lit. c AVB umfasse die krankheits­be­d­ingte unver­schuldete Unter­suchung­shaft nicht; wenn doch, sei sie ungewöhn­lich und in Anwen­dung der Ungewöhn­lichkeit­sregel nichtig.

In einem ersten Schritt rief das Bun­des­gericht all­ge­meine Ausle­gung­sprinzip­i­en in Erin­nerung (E. 2.1 und 2.2):

Die all­ge­meinen Bedin­gun­gen eines Ver­sicherungsver­trags wer­den nach den gle­ichen Grund­sätzen aus­gelegt wie andere Ver­trags­bes­tim­mungen […]. Entschei­dend ist dem­nach in erster Lin­ie der übere­in­stim­mende wirk­liche Wille der Ver­tragsparteien und in zweit­er Lin­ie, falls ein solch­er nicht fest­gestellt wer­den kann, die Ausle­gung der Erk­lärun­gen der Parteien nach dem Vertrauensprinzip […]. 

Mehrdeutige Klauseln in all­ge­meinen Ver­sicherungs­be­din­gun­gen sind nach der Unklarheit­en­regel gegen den Ver­sicher­er als deren Ver­fass­er auszule­gen […]. Sie gelangt jedoch nur zur Anwen­dung, wenn sämtliche übri­gen Ausle­gungsmit­tel versagen […]. 

Die Gel­tung vor­for­muliert­er all­ge­mein­er Geschäfts­be­din­gun­gen wird gemäss der Recht­sprechung durch die Ungewöhn­lichkeit­sregel eingeschränkt. Danach sind von der glob­al erk­lärten Zus­tim­mung zu all­ge­meinen Ver­trags­be­din­gun­gen alle ungewöhn­lichen Klauseln ausgenom­men, auf deren Vorhan­den­sein die schwächere oder weniger geschäft­ser­fahrene Partei nicht geson­dert aufmerk­sam gemacht wor­den ist. Der Ver­fass­er von all­ge­meinen Geschäfts­be­din­gun­gen muss nach dem Ver­trauensgrund­satz davon aus­ge­hen, dass ein uner­fahren­er Ver­tragspart­ner ungewöhn­lichen Klauseln nicht zus­timmt. Die Ungewöhn­lichkeit beurteilt sich aus der Sicht des Zus­tim­menden im Zeit­punkt des Ver­tragsab­schlusses. Für einen Branchen­frem­den kön­nen deshalb auch branchenübliche Klauseln ungewöhn­lich sein. Die Ungewöhn­lichkeit­sregel kommt jedoch nur dann zur Anwen­dung, wenn neben der sub­jek­tiv­en Voraus­set­zung des Fehlens von Branch­en­er­fahrung die betr­e­f­fende Klausel objek­tiv beurteilt einen geschäfts­frem­den Inhalt aufweist. Dies ist dann zu beja­hen, wenn sie zu ein­er wesentlichen Änderung des Ver­tragscharak­ters führt oder in erhe­blichem Masse aus dem geset­zlichen Rah­men des Ver­tragsty­pus fällt. Je stärk­er eine Klausel die Rechtsstel­lung des Ver­tragspart­ners beein­trächtigt, desto eher ist sie als ungewöhn­lich zu qual­i­fizieren. Bei Ver­sicherungsverträ­gen sind die berechtigten Deck­ungser­wartun­gen zu berücksichtigen […]. 

In einem zweit­en Schritt nahm das Bun­des­gericht eine objek­tive Ausle­gung der Auss­chluss-Klausel vor und kam zum Schluss, dass die Auss­chluss-Klausel ein­deutig sei, weshalb die Unklarheit­en­regel nicht zur Anwen­dung komme (E. 3.3):

  1. Die fragliche Auss­chluss-Klausel umfasse aus­drück­lich sowohl diejenige Arbeit­sun­fähigkeit, die vor als auch diejenige, die während der Unter­suchung­shaft oder eines strafrechtlichen/fürsorgerischen Frei­heit­sentzugs eintritt.
  2. Nach dem Wort­laut wirke die Klausel sehr umfassend. Sie spricht in all­ge­mein­er Weise vom Frei­heit­sentzug, ohne eine Unter­schei­dung in Bezug auf das Ver­schuldense­le­ment zu tre­f­fen. Hinzu komme, dass die Klausel auch den “für­sorg­erischen Frei­heit­sentzug” – mit­tler­weile geset­zlich als für­sorg­erische Unter­bringung beze­ich­net (vgl. Art. 426 ff. ZGB) – aus­drück­lich nen­nt, der als Mass­nahme des Erwach­se­nen­schutzes namentlich bei ein­er psy­chis­chen Störung einen Entzug der Frei­heit auch gegen den Willen der betrof­fe­nen Per­son erlaubt, sofern die nötige Behand­lung oder Betreu­ung nicht anders erfol­gen kann.
  3. Vor diesem Hin­ter­grund sei die Klausel nach ihrem Wort­laut und Zusam­men­hang sowie den gesamten Umstän­den nach Treu und Glauben so zu ver­ste­hen, dass sie auch einen unver­schulde­ten, krankheits­be­d­ingten Frei­heit­sentzug (in Form ein­er Unter­suchung­shaft oder für­sorg­erischen Unter­bringung) erfassen wolle.

Das Bun­des­gericht erwog (E. 3.4), dass es zwar zutr­e­ffe, dass die Ungewöhn­lichkeit­sregel grund­sät­zlich auch Anwen­dung find­en kann, wenn analoge Bes­tim­mungen in den AVB ander­er Ver­sicher­er vorhan­den sind. Auch branchenübliche Klauseln kön­nten für Branchen­fremde ungewöhn­lich sein. Doch sei wed­er ersichtlich noch dar­ge­tan, inwiefern die betr­e­f­fende Klausel nicht nur für eine branche­nuner­fahrene Per­son ungewöhn­lich sei, son­dern auch objek­tiv beurteilt einen geschäfts­frem­den Inhalt im Sinne der Recht­sprechung aufweisen würde. Es sei insoweit nicht mass­gebend, dass der Frei­heit­sentzug auf eine krankheits­be­d­ingte Anlas­stat zurück­zuführen ist. Jeden­falls falle die zu beurteilende Auss­chluss-Klausel, die auch die vor­liegende Aus­nah­mekon­stel­la­tion erfasst, wed­er in erhe­blichem Masse aus dem geset­zlichen Rah­men des Ver­tragsty­pus noch führe sie zu ein­er wesentlichen Änderung des Vertragscharakters.