5A_672/2020: Nichtigkeit einer Betreibungshandlung während des Rechtsstillstands nach Art. 62 SchKG (Franz.; amtl. publ.)

Im zur Publikation vorgesehen Entscheid 54_672/2020 vom 19. Januar 2022 hatte das Bundesgericht darüber zu entscheiden, ob die Zustellung des Lastenverzeichnisses an die Schuldnerin in einem Betreibungsverfahren während des aufgrund der COVID-19 Pandemie vom Bundesrat angeordneten Rechtsstillstandes nichtig ist oder ob die Wirksamkeit der Zustellung lediglich aufgeschoben wird. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die in Frage stehende Betreibungshandlung während des Rechtsstillstands (Art. 62 SchKG i.V.m. Art. 56 Ziff. 3 SchKG) i.S.v. Art. 22 SchKG nichtig ist.


Dem (auf Franzö­sisch ver­fassten) Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

A und D sind Miteigen­tümer zweier Grund­stücke. Gegen A und D wur­den diverse Betrei­bun­gen ein­geleit­et, u.a. auch eine Betrei­bung auf Grundp­fand­ver­w­er­tung durch die C SA (nach­fol­gend: Bank). In diesem Zusam­men­hang wur­den die Miteigen­tum­san­teile in eini­gen Betrei­bungsver­fahren gepfän­det, wobei mehrere Ver­w­er­tungs­begehren bere­its gestellt wurden.

Im Feb­ru­ar 2020 wur­den in der Folge Ort, Tag und Stunde der Ver­steigerung (am 29. Sep­tem­ber 2020 um 10 Uhr) mit­tels Pub­lika­tion im SHAB und im Gen­fer Feuille d’avis offi­cielle öffentlich bekan­nt­gemacht und die Pfandgläu­biger wur­den u.a. aufge­fordert, ihre Forderun­gen bis zum 5. März 2020 einzu­geben. In der Pub­lika­tion wurde zudem angegeben, dass die Steigerungsbedin­gungen und das Las­ten­verze­ich­nis ab dem 19. März 2020 beim Betrei­bungsamt Genf auflie­gen wer­den. Die Forderun­gen der Bank und die Forderun­gen des weit­eren Grundp­fandgläu­bigers B wur­den im Las­ten­verze­ich­nis im Umfang von CHF 5’611’028.60 bzw. CHF 684’236.10 zugelassen.

Mit Verord­nung vom 18. März 2020 ord­nete der Bun­desrat auf­grund der COVID-19 Pan­demie einen schweizweit­en Rechtsstill­stand gemäss Art. 62 SchKG zwis­chen dem 19. März 2020, 7 Uhr, und dem 4. April 2020, 24 Uhr, an.

Mit Schreiben vom 19. März 2020 wur­den A die Steigerungs­be­din­gun­gen und das Las­ten­verze­ich­nis am 23. März 2020 zugestellt. Zudem wurde die Schuld­ner­in auf die 10-tägige Bestre­itungs­frist des Las­ten­verze­ich­niss­es aufmerk­sam gemacht.

Mit Eingabe vom 27. März 2020 erhob A eine SchKG-Beschw­erde gegen die Mit­teilung vom 19. März 2020 und das Las­ten­verze­ich­nis bei der Gen­fer Auf­sichts­be­hörde und machte gel­tend, dass die Mit­teilung als solche nichtig sei, weil sie während des Rechtsstill­stands zugestellt wurde. Zudem bestritt sie die Forderun­gen der Grundp­fandgläu­biger im Las­ten­verze­ich­nis und bean­standete die Ver­steigerungs­be­din­gun­gen. Mit Urteil vom 6. August 2020 wies die Gen­fer Auf­sichts­be­hörde die SchKG-Beschw­erde gegen das Las­ten­verze­ich­nis und die Ver­steigerungs­be­din­gun­gen ab, soweit sie darauf ein­trat, und trat im Übri­gen auf die SchKG-Beschw­erde nicht ein.

Dage­gen erhob A Beschw­erde (auf Ital­ienisch ver­fasst) in Zivil­sachen beim Bun­des­gericht. Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­erde gut, hob den Entscheid der Vorin­stanz auf, hiess die SchKG-Beschw­erde von A gut und stellte fest, dass die Mit­teilung des Las­ten­verze­ich­niss­es vom 19. März 2020 nichtig ist.


Vor Bun­des­gericht war einzig die Frage strit­tig, ob die Zustel­lung des Las­ten­verze­ich­niss­es während des vom Bun­desrats ange­ord­neten Rechtsstill­stands in Anwen­dung von Art. 62 SchKG Art. 56 Ziff. 3 SchKG verletzt.

Zunächst erwog das Bun­des­gericht, dass das Las­ten­verze­ich­nis eine Betrei­bung­shand­lung darstellt und bejahte fol­glich die Anwen­dung von Art. 56 Abs. 3 SchKG im vor­liegen­den Fall (E. 4.2):

4.2. L’art. 56 ch. 3 LP sup­pose que l’é­tat des charges puisse être qual­i­fié d’acte de pour­suite, ce que l’au­torité can­tonale a admis sans être cri­tiquée par la recourante, à bon droit.

Selon la jurispru­dence, con­stitue en effet un acte de pour­suite au sens de cette dis­po­si­tion toute mesure offi­cielle d’un organe de l’exé­cu­tion for­cée ayant pour effet de rap­procher le créanci­er de son but et affec­tant la sit­u­a­tion juridique du débi­teur (…). La com­mu­ni­ca­tion de l’é­tat des charges au débi­teur (cf. art. 37 al. 1 ORFI) répond à ces con­di­tions, dès lors qu’elle fait par­tir le délai de 10 jours dans lequel, s’il entend con­tester l’ex­is­tence, l’é­ten­due, le rang ou l’exi­gi­bil­ité d’un droit inscrit à l’é­tat des charges, il doit for­muler l’op­po­si­tion qui déclenchera la procé­dure d’épu­ra­tion de l’é­tat des charges des art. 106 à 109 LP et, à défaut de laque­lle, le droit sera con­sid­éré comme recon­nu par lui pour la pour­suite en cause (art. 140 al. 2 LP et 37 al. 2 ORFI;…).”

Sodann set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Rechts­folge ein­er Ver­let­zung von Art. 56 Ziff. 3 SchKG auseinander.

Die Vorin­stanz machte gel­tend, dass eine Zustel­lung während des Rechtsstill­stands nicht nichtig sei. Vielmehr ent­falte die Zustel­lung ihre Wirkun­gen erst nach dem Ende des Rechtsstill­stands. Dage­gen wen­dete A vor Bun­des­gericht ein, dass diese Prax­is nur im Fall ein­er Zustel­lung während den geschlosse­nen Zeit­en und den Betrei­bungs­fe­rien gemäss Art. 56 Ziff. 1 und Art. 56 Ziff. 2 SchKG zur Anwen­dung komme. Hinge­gen sei eine Zustel­lung während des Rechtsstill­stands gemäss Art. 62 SchKG nichtig (E. 4.3.2):

… Elle sou­tient que cette pra­tique ne s’ap­plique que dans le cas d’un acte de pour­suite entre­pris pen­dant les temps pro­hibés de l’art. 56 ch. 1 LP et les féries de pour­suite de l’art. 56 ch. 2 LP, et non pen­dant la sus­pen­sion au sens de l’art. 62 LP visée par l’art. 56 ch. 3 LP. Elle se réfère en par­ti­c­uli­er à l’avis de divers auteurs selon lesquels une telle sus­pen­sion sert l’in­térêt pub­lic avec pour con­séquence que tout acte de pour­suite accom­pli durant cette péri­ode est frap­pé de nul­lité (…). Elle fait val­oir plus sin­gulière­ment que sub­or­don­ner la nul­lité de l’acte de pour­suite aux cir­con­stances de chaque cas d’e­spèce et à une pondéra­tion des intérêts en présence, ain­si que l’a con­sid­éré l’au­torité can­tonale, crée une insécu­rité juridique et con­tre­vient à la ratio legis de l’art. 62 LP.”

Das Bun­des­gericht stützte die Ansicht von A und ver­wies auf das jüng­ste Urteil zu dieser Frage (5A_103/2021 vom 18. Okto­ber 2021), in welchem das Bun­des­gericht eine Betrei­bung­shand­lung während des Rechtsstill­stands nach Art. 62 SchKG auf­grund der überindi­vidu­ellen Schutzrich­tung des all­ge­meinen Rechtsstill­standes als nichtig erk­lärte, da das öffentliche Inter­esse (genereller Schutz von Schuld­nern und Gläu­bigern wegen ein­er Epi­demie, funk­tion­ieren­des Betrei­bungswe­sen) dem Inter­esse an einem gut funk­tion­ieren­den Betrei­bungssys­tem (u.a. mit einem reg­ulären Arbeit­srhyth­mus der Betrei­bungsämter und der Ver­mei­dung von Rück­stauen) vorge­ht. Das Bun­des­gericht erwog, dass die Behaup­tung des Grundp­fandgläu­bigers B, wonach A seit Jahren alles daran geset­zt hätte, um die Begle­ichung der zahlre­ichen Schulden ihrer Gläu­biger zu erschw­eren, allein nicht genügt, um das Vor­liegen von offen­sichtlichem Rechtsmiss­brauch zu beja­hen (E. 4.3.4):

4.3.4. La sim­ple affir­ma­tion de l’in­timé B selon laque­lle la recourante aurait ” tout mis en oeu­vre pour repouss­er le dés­in­téresse­ment de ses créanciers depuis des années ” ne suf­fit pas, en l’ab­sence d’autres cir­con­stances, à retenir qu’elle com­met­trait un abus de droit man­i­feste en se pré­valant de la nul­lité de la com­mu­ni­ca­tion de l’é­tat des charges pen­dant la sus­pen­sion de l’art. 62 LP (…). L’ar­rêt non pub­lié 7B.76/2005 du 25 mai 2005 auquel le prénom­mé se réfère n’est à cet égard pas per­ti­nent. Il visait la sit­u­a­tion d’un débi­teur qui, dans le seul but de retarder la procé­dure, était allé quérir un com­man­de­ment de pay­er con­for­mé­ment à l’in­vi­ta­tion à retir­er l’en­voi (dans les sept jours) pré­cisé­ment le jour de son unique journée de ser­vice mil­i­taire, et pas avant ni après alors qu’il en avait la pos­si­bil­ité, procédé auquel il avait déjà recou­ru auparavant (…). ”