5A_568/2021: Enge Auslegung des Begriffs der lebensprägenden Ehe (amtl. Publ.)

Im zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 5A_568/2021 vom 25.3.2022 bestätigt das Bun­des­gericht seine restrik­tive Recht­sprechung zur leben­sprä­gen­den Ehe. Eine Ehe, die bis zur Tren­nung drei Jahre andauerte, ist trotz Geburt eines gemein­samen Kindes rund ein Jahr vor der Tren­nung und danach gelebter “klas­sis­ch­er” Rol­len­teilung nicht als leben­sprä­gend einzustufen. Auch die beru­fliche Abhängigkeit der Ehe­frau vom Ehe­mann ver­mag daran nichts zu ändern.


Urteil­szusam­men­fas­sung

Im oben ref­eren­zierten Urteil hat­te das Bun­des­gericht über die Leben­sprä­gung ein­er Ehe zu entschei­den, die bis zur Tren­nung drei Jahre andauerte, zuvor lebten die Parteien zwei Jahre im Konku­bi­nat. Gemäss Fest­stel­lun­gen der Vorin­stanz begab sich die Ehe­frau ab Eheschlies­sung mit ihrem Beratung­sun­ternehmen in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zur Unternehmensgruppe des Ehe­mannes. Unge­fähr ein Jahr vor der Tren­nung wur­den die Parteien Eltern ein­er Tochter und lebten von da an gemäss Behaup­tung der Ehe­frau eine “klas­sis­che” Rol­len­teilung. Im Zuge der Tren­nung kündigte der Ehe­mann der Ehe­frau dann sämtliche Mandate.

Das Bun­des­gericht erwog, für die Fes­tle­gung des gebühren­den nachehe­lichen Unter­halts sei entschei­dend, ob die Ehe leben­sprä­gend gewe­sen sei oder nicht. Bei leben­sprä­gen­den Ehen sei das Ver­trauen in den Fortbe­stand der Ehe bzw. der bish­er vere­in­barten Auf­gaben­teilung schutzwürdig und es beste­he Anspruch darauf, den zulet­zt gelebten gemein­samen Stan­dard fortzuführen. Könne nicht von einem schutzwürdi­gen Ver­trauen auf Fort­führung der Ehe aus­ge­gan­gen wer­den, sei für den nachehe­lichen Unter­halt am vore­he­lichen Stan­dard anzuknüpfen; der berechtigte Ehe­gat­te sei zu stellen, wie wenn die Ehe nicht geschlossen wor­den wäre (sog. Heiratsschaden).

Der Leben­sprä­gung komme indes nicht die Funk­tion eines “Kipp­schal­ters” zu. Die bish­er für das Vor­liegen von Leben­sprä­gung sprechen­den Ver­mu­tun­gen (namentlich das Vorhan­den­sein gemein­samer Kinder) seien zu rel­a­tivieren und hät­ten keine absolute Gel­tung. Leben­sprä­gend sei eine Ehe jeden­falls dann, wenn ein Ehe­gat­te seine ökonomis­che Selb­ständigkeit zugun­sten der Haushalts­be­sorgung und Kinder­be­treu­ung aufgebe und es ihm deswe­gen nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich sei, an der früheren beru­flichen Stel­lung anzuknüpfen oder ein­er Erwerb­stätigkeit nachzuge­hen, die ähn­lichen ökonomis­chen Erfolg verspreche.

Nach diesen ein­lei­t­en­den rechtlichen Erläuterun­gen wid­mete sich das Bun­des­gericht der Leben­sprä­gung der Ehe im zu beurteilen­den Fall. Es hielt fest, die Leben­sprä­gung sei bish­er regelmäs­sig bejaht wor­den, wenn aus der Ehe ein gemein­sames Kind her­vorge­gan­gen sei. Die Ehe­frau berufe sich denn auch auf ihre nachehe­lichen Betreu­ungspflicht­en. Seit der let­zten Revi­sion des Kindesun­ter­halt­srechts wür­den Nachteile, die einem Eltern­teil aus der Betreu­ung von Kindern erwach­sen, primär durch den Betreu­ung­sun­ter­halt aus­geglichen. Es sei daher fraglich, inwieweit die aus der Kinder­be­treu­ung stam­menden Nachteile noch eine Leben­sprä­gung der Ehe begrün­den kön­nten. Diese Nachteile liessen sich nicht mit einem Fortwirken der ehe­lichen Gemein­schaft erk­lären. Sie stün­den vielmehr in erster Lin­ie mit fortbeste­hen­den Kinder­be­treu­ungspflicht­en im Zusam­men­hang, die neu aber ger­ade ein­er sep­a­rat­en Regelung unter­liegen wür­den. Damit könne aus der Geburt gemein­samer Kinder während der Ehe allein nicht mehr die Leben­sprä­gung der Ehe abgeleit­et werden.

Selb­st wenn die Ehe­gat­ten nach der Geburt des Kindes eine klas­sis­che Rol­len­teilung ins Auge gefasst und auch gelebt hät­ten, begründe dies keine Leben­sprä­gung. Die ange­bliche Haus­gat­tene­he habe weniger als ein Jahr gedauert; zuvor hät­ten bei­de Parteien ihre erfol­gre­iche beru­fliche Tätigkeit aus­geübt. Eine der­art kurze Phase der Rol­len­teilung habe für sich genom­men keinen unumkehrbaren Ein­fluss auf die Sit­u­a­tion der Ehe­frau gezeit­igt, weshalb sie deswe­gen noch nicht in den Fortbe­stand der Auf­gaben­teilung habe ver­trauen dür­fen. Die beantragte Anrech­nung des vore­he­lichen Konku­bi­nats helfe nicht weit­er, da für diese Zeit eine Rol­len­teilung noch nicht ein­mal behauptet sei.

Dass sich die Ehe­frau nach Eheschluss mit ihrem Unternehmen in die wirtschaftliche Abhängigkeit des Ehe­mannes begeben habe und als Folge der Auflö­sung der Geschäfts­beziehung nicht mehr an ihre frühere beru­fliche Stel­lung anknüpfen könne, sei keine direk­te oder notwendi­ge Folge der Ehe. Entsprechend könne in den Auswirkun­gen dieser wirtschaftlichen Kon­stel­la­tion kein Fortwirken der ehe­lichen Gemein­schaft gese­hen wer­den. Der Entscheid der Ehe­frau, ihre Unternehmung in die Abhängigkeit der Unternehmensgruppe des Ehe­mannes zu stellen, möge zwar durch die Ehe bee­in­flusst oder sog­ar bewirkt wor­den sein. Die Beein­träch­ti­gung der wirtschaftlichen Selb­ständigkeit erscheine aber nicht als ehebedingt.

Zusam­menge­fasst sei die Ehe als nicht leben­sprä­gend einzustufen; die Ehe­frau habe keinen Anspruch auf Fort­führung des zulet­zt gelebten gemein­samen Stan­dards. Die Vorin­stanz habe nun zu prüfen, ob aus­ge­hend von den vore­he­lichen Ver­hält­nis­sen ein Unter­halt­sanspruch der Ehe­frau in Betra­cht komme (Ersatz des Heiratsschadens).


Kom­men­tar

Mit dem im let­zten Jahr pub­lizierten Leiturteil BGE 147 III 249 hat das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zur leben­sprä­gen­den Ehe ver­schärft. Es gab die bish­er für eine Leben­sprä­gung sprechen­den Ver­mu­tun­gen (min­destens zehn­jährige Ehe oder während der Ehe geborene Kinder) im Ergeb­nis auf und ver­langte neu eine kri­tis­che, einzelfall­be­zo­gene Prü­fung. Es erwog, es sei nur dann gerecht­fer­tigt, den nachehe­lichen Unter­halt am ehe­lichen Stan­dard auszuricht­en, wenn eine langjährige Haus­gat­tene­he vor­liege, welche die wirtschaftliche Selb­ständigkeit nach­haltig ein­schränke (E. 3.4.3).

In der Lehre wurde in der Folge darüber spekuliert, welche Fol­gen diese neue Recht­sprechung für die Prax­is haben werde. Der dem Leit­entscheid zugrun­deliegende Sachver­halt war zu aussergewöhn­lich, um daraus direkt die Kon­se­quen­zen der neuen Recht­sprechung zu erken­nen. Bere­its nach bish­eriger Prax­is wäre im damals beurteil­ten Fall die Leben­sprä­gung zu verneinen gewe­sen. Teil­weise wurde ver­mutet, die Suppe werde wohl nicht so heiss gegessen, wie sie gekocht werde, sprich: Die neue Recht­sprechung werde auch kün­ftig in viel­er­lei Hin­sicht an die bish­erige Prax­is anknüpfen. Diese Ver­mu­tung hat sich nun als falsch her­aus­gestellt. Das Bun­des­gericht verneint im hier besproch­enen Urteil die Leben­sprä­gung in einem Fall, in dem sie unter der bish­eri­gen Prax­is auf­grund der während der Ehe gebore­nen Tochter bejaht wor­den wäre.

Das Urteil zeigt, dass das Bun­des­gericht den Begriff der leben­sprä­gen­den Ehe sehr eng ver­standen haben will. Kün­ftig kann eine Ehe nur noch bei während län­ger­er Zeit gelebter sog. klas­sis­ch­er Haus­gat­tene­he als leben­sprä­gend qual­i­fiziert wer­den. Die restrik­tive Recht­sprechung wird dazu führen, dass kün­ftig in Schei­dungsver­fahren ver­mehrt darüber gestrit­ten wird, ob ein­er der Ehe­gat­ten ein Heiratss­chaden erlit­ten und entsprechend Anspruch auf nachehe­lichen Unter­halt hat, um finanziell wieder so gestellt zu sein, als wäre die Ehe nie geschlossen wor­den. Dies wird für die Parteien oft­mals der einzige verbleibende Weg sein, um zumin­d­est für eine beschränk­te Zeit nachehe­lichen Unter­halt erhältlich machen zu können.