In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 4A_621/2023 vom 6. August 2024 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob die staatlichen Gerichte in der Schweiz an den negativen Zuständigkeitsentscheid eines vereinbarten Schiedsgerichts mit Sitz im Ausland gebunden sind, und bejahte diese Frage im konkreten Fall, weil nicht geltend gemacht wurde, dass der negative Zuständigkeitsentscheid in der Schweiz nicht anerkannt worden wäre. Die Schweizer Gerichte sind daher weder verpflichtet noch berechtigt, die Parteien erneut gemäss Art. II Abs. 3 NYÜ auf das Schiedsverfahren zu verweisen.
Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die B d.o.o. (Gesuchstellerin, Beschwerdegegnerin) ist eine Aktiengesellschaft nach slowenischem Recht mit Sitz in U, Slowenien. Die A S.A. (Gesuchsgegnerin, Beschwerdeführerin) ist eine Aktiengesellschaft nach schweizerischem Recht mit Sitz in V, Kanton Aargau.
Am 9. Oktober 2009 unterzeichnete die Gesuchstellerin eine als “Distribution Agreement” bezeichnete Vereinbarung, die eine Schiedsklausel zugunsten eines Schiedsverfahrens vor der Slovenian Chamber of Commerce enthielt (Schiedsvereinbarung).
Die Gesuchstellerin reichte eine Schiedsklage bei der Slovenian Chamber of Commerce ein. Mit Urteil vom 20. November 2017 erklärte sich das angerufene Schiedsgericht mit der Begründung für unzuständig, die Gesuchsgegnerin sei nicht Partei der Schiedsvereinbarung.
Die Gesuchstellerin erhob daraufhin beim Handelsgericht des Kantons Aargau Klage gegen die Gesuchsgegnerin und machte vertragsrechtliche Ansprüche aus dem “Distribution Agreement” geltend. Mit Urteil vom 5. November 2018 erklärte sich das Handelsgericht gestützt auf die Schiedsvereinbarung für unzuständig und verwies die Gesuchstellerin im Sinne von Art. II Abs. 3 des Übereinkommens vom 10. Juni 1958 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (NYÜ oder New Yorker Übereinkommen) auf das Schiedsverfahren. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesgericht abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde (Urteil 4A_646/2018 vom 17. April 2019).
Die Gesuchstellerin erhob anschliessend erneut Klage über weitgehend dieselben Ansprüche vor dem Kreisgericht Koper, Slowenien. Mit Urteil vom 21. März 2022 hat das Kreisgericht die Klage gutgeheissen und die Gesuchsgegnerin verpflichtet, der Gesuchstellerin aus dem Kaufvertrag EUR 593’075.11 nebst Zins zu bezahlen. Dieses Urteil wurde vom Höheren Gericht in Koper, Slowenien, mit Urteil vom 19. August 2022 bestätigt.
Daraufhin betrieb die Gesuchstellerin gestützt auf das Urteil des Kreisgerichts Koper die Gesuchsgegnerin für den Gesamtbetrag von Fr. 673’067.65 nebst Zins. Dagegen erhob die Gesuchsgegnerin Rechtsvorschlag.
Mit Eingabe vom 25. November 2022 ersuchte die Gesuchstellerin das Bezirksgericht Zofingen um Erteilung der definitiven Rechtsöffnung im Umfang von CHF 991’631.30. Mit Entscheid vom 17. April 2023 hiess der Präsident des Bezirksgerichts das Gesuch gut und erteilte die definitive Rechtsöffnung.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 24. Oktober 2023 ab. Gemäss dem Obergericht sei der Entscheid nach dem LugÜ anzuerkennen und zu vollstrecken, selbst wenn das slowenische Gericht den Entscheid in Missachtung einer Schiedsvereinbarung gefällt haben sollte. Daran ändere nichts, dass das Handelsgericht des Kantons Aargau am 5. November 2018 die Zuständigkeit der staatlichen Gerichte in der Schweiz verneint und die Gesuchstellerin an das vereinbarte Schiedsgericht verwiesen habe. Dieses Schiedsgericht habe bereits am 20. November 2017 entschieden, dass die Gesuchsgegnerin nicht Partei der Schiedsvereinbarung sei.
Dagegen erhob die Gesuchsgegnerin Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht. In der Sache wurden keine Vernehmlassungen eingeholt. Mit präsidialer Verfügung vom 4. Januar 2024 wurde der Beschwerde aufschiebende Wirkung erteilt.
Mit Urteil vom 6. August 2024 wies das Bundesgericht die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war.
Sachlicher Anwendungsbereich des LugÜ
Die Gesuchsgegnerin machte u.a. geltend, dass die Vorinstanz Art. 1 Abs. 1 LugÜ verletzt habe.
Das Bundesgericht rief in diesem Zusammenhang seine Rechtsprechung in Erinnerung (E. 5.3): Entscheidet ein vertragsstaatliches Gericht ungeachtet des Bestehens einer Schiedsvereinbarung in der Sache selbst, gelangt der Ausschluss der Schiedsgerichtsbarkeit gemäss Art. 1 Abs. 2 lit. d LugÜ nicht zur Anwendung. Das Bundesgericht erwog im konkreten Fall, dass im slowenischen Urteil eine Streitigkeit zwischen den Parteien aus einem Kaufvertrag und damit über eine Zivilsache im Sinne von Art. 1 Abs. 1 LugÜ entschieden wurde, weshalb das Urteil somit vom sachlichen Anwendungsbereich des LugÜ erfasst ist (E. 5.4):
“So wäre der Entscheid auch nach den Bestimmungen des LugÜ anzuerkennen, wenn er in Missachtung einer wirksamen Schiedsvereinbarung ergangen wäre (…). Die Vorinstanz hat somit Art. 1 Abs. 2 lit. d LugÜ nicht verletzt, indem sie das Übereinkommen auf die Anerkennung der slowenischen Entscheidung angewendet hat.”
Bindungswirkungen des negativen Zuständigkeitsentscheids eines vereinbarten Schiedsgerichts für die Schweizer Gerichte
Sodann rügte die Gesuchsgegnerin, dass die Vorinstanz Art. 34 Ziff. 3 LugÜ verletzt habe: Der slowenische Entscheid sei mit dem Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau unvereinbar, da die vor dem slowenischen Gericht eingeklagten Forderungen zuvor basierend auf derselben Grundlage vor dem Handelsgericht eingeklagt worden seien.
Das Bundesgericht setzte sich in diesem Zusammenhang mit der Frage auseinander, ob der Entscheid des Handelsgerichts des Kantons Aargau in Rechtskraft erwachsen konnte (E. 6.4.2). Zunächst erwog das Bundesgericht, dass nur eine Teilfrage in der Lehre und Rechtsprechung bis jetzt beantwortet wurde (E. 6.4.2):
- Nach schweizerischem Recht kann grundsätzlich nur ein Sachurteil in Rechtskraft erwachsen.
- Ein rechtskräftiges Prozessurteil kann höchstens in Bezug auf die Zulässigkeitsvoraussetzung, deren Vorliegen das Gericht bejaht oder verneint hat, in Rechtskraft erwachsen.
Das Bundesgericht stellte sodann fest, dass die Bindungswirkung eines negativen Zuständigkeitsentscheids, mit dem sich ein staatliches Gericht in der Schweiz zugunsten eines Schiedsgerichts für unzuständig erklärt, noch nicht abschliessend geklärt ist: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist ein vereinbartes Schiedsgericht mit Sitz in der Schweiz jedenfalls nicht an die Entscheidung des staatlichen Gerichts gebunden, was auch von der Lehre einhellig vertreten wird. Darüber hinaus sind die Rechtswirkungen eines solchen Entscheids jedoch umstritten (E. 6.4.2):
- Nach einer Lehrmeinung stellt ein solcher Unzuständigkeitsentscheid nur die Unzuständigkeit des urteilenden staatlichen Gerichts rechtskräftig fest.
- Nach anderer Lehrmeinung bindet ein solcher Entscheid auch die übrigen staatlichen Gerichte in der Schweiz an die festgestellte Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung.
Das Bundesgericht erwog allerdings, dass die Frage, ob dem negativen Zuständigkeitsentscheid eines staatlichen Gerichts eine derart weitreichende Bindungswirkung zukommt, im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben kann, wenn der negative Zuständigkeitsentscheid eines vereinbarten Schiedsgerichts mit Sitz im Ausland in der Schweiz anerkannt wird (E. 6.4.2, Hervorhebungen hinzugefügt):
“Denn vorliegend geht es um die Frage, ob die staatlichen Gerichte in der Schweiz an den negativen Zuständigkeitsentscheid eines vereinbarten Schiedsgerichts mit Sitz im Ausland gebunden sind. Dies ist der Fall, sofern dieser Schiedsentscheid in der Schweiz anerkannt wird (…). So entscheidet das Schiedsgericht grundsätzlich selbst über seine Zuständigkeit (sog. Grundsatz der relativen Kompetenz-Kompetenz; vgl. Art. 186 Abs. 1 IPRG; …). Dabei unterliegt zwar der schiedsgerichtliche Zuständigkeitsentscheid der Überprüfung der staatlichen Gerichte, sofern gegen den Entscheid bzw. dessen Anerkennung die vorgesehenen Rechtsbehelfe ergriffen werden (…). Werden allerdings die vorgesehenen Rechtsbehelfe nicht ergriffen, so ist der Zuständigkeitsentscheid abschliessend und damit für die staatlichen Gerichte verbindlich (…). Hat sich somit das vereinbarte Schiedsgericht mit Sitz im Ausland in Ausübung seiner Kompetenz-Kompetenz für unzuständig erklärt und wird dieser Schiedsentscheid in der Schweiz anerkannt, so sind die staatlichen Gerichte in der Schweiz an den Schiedsentscheid gebunden und nicht (mehr) an den negativen Zuständigkeitsentscheid eines anderen staatlichen Gerichts, das sich aufgrund der aus seiner Sicht wirksamen Schiedsvereinbarung für unzuständig erklärt hat (…).”
Im konkreten Fall kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Voraussetzungen für die Bindungswirkung des negativen Zuständigkeitsentscheids des vereinbarten Schiedsgerichts vorliegen und dass die Schweizer Gerichte daran gebunden sind (E. 6.4.3 und 6.4.4, Hervorhebungen hinzugefügt):
“6.4.3. Das vereinbarte Schiedsgericht mit Sitz in Slowenien hat sich mit der Begründung für unzuständig erklärt, die Beschwerdeführerin sei nicht Partei der Schiedsvereinbarung. Dass dieses Schiedsurteil in der Schweiz nicht anerkannt worden wäre, wird von der Beschwerdeführerin nicht geltend gemacht und ist dem angefochtenen Entscheid nicht zu entnehmen. Die schweizerischen Gerichte sind deshalb an diesen negativen Zuständigkeitsentscheid des Schiedsgerichts und nicht an die Feststellungen des Handelsgerichts zur Schiedsvereinbarung gebunden. Zwar ist — wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend macht — die Zuständigkeitsentscheidung des Handelsgerichts zeitlich nach dem Schiedsurteil ergangen, wobei das Handelsgericht das Schiedsurteil bei der Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit berücksichtigt hat. Die Zuständigkeitsentscheidung des Handelsgerichts ändert jedoch nichts daran, dass das Schiedsgericht bereits über seine eigene Zuständigkeit entschieden hat. Andernfalls drohte zum einen die unerwünschte Folge, dass das staatliche Gericht mit seiner Zuständigkeitsentscheidung das Schiedsurteil verdrängen und damit die Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts unterlaufen könnte. Zum anderen drohte ein negativer Kompetenzkonflikt, wenn sowohl das Schiedsgericht als auch das staatliche Gericht sich für unzuständig erklären würden (…).
6.4.4. Das Urteil des Handelsgerichts ist somit nur insofern rechtskräftig, als das Handelsgericht seine eigene Unzuständigkeit festgestellt hat. Damit entfaltet dieses Urteil keine Rechtswirkungen, die mit den Rechtswirkungen des slowenischen Urteils im Sinne von Art. 34 Ziff. 3 LugÜ potenziell unvereinbar sein könnten (…).”
Art. II Abs. 3 NYÜ ist im Fall eines negativen Zuständigkeitsentscheids des vereinbarten Schiedsgerichts nicht anwendbar
Das Bundesgericht setzte sich auch mit der Rüge der Gesuchsgegnerin, die Vorinstanz habe Art. II Abs. 3 NYÜ verletzt, indem sie das unter Missachtung der Schiedsvereinbarung ergangene slowenische Urteil zur Vollstreckung zugelassen habe. Das LugÜ stehe dem nicht entgegen, da die Schweiz sowohl das LugÜ als auch das NYÜ ratifiziert habe und beide Staatsverträge gleichrangig seien. Gehe es aber um die Anerkennung eines Urteils, das unter Missachtung einer Schiedsvereinbarung ergangen sei, liege ein Konventionskonflikt vor. Dieser Konflikt sei zugunsten des NYÜ als lex specialis zu lösen (E. 7.1).
Dieser Ansicht widersprach das Bundesgericht (E. 7.2.1 und 7.2.2, Hervorhebungen hinzugefügt):
“7.2.1. Wird ein Gericht eines Vertragsstaates wegen eines Streitgegenstandes angerufen, hinsichtlich dessen die Parteien eine Schiedsvereinbarung im Sinne dieses Artikels getroffen haben, so hat nach Art. II Abs. 3 NYÜ das Gericht auf Antrag der Parteien sie auf das Schiedsverfahren zu verweisen, sofern es nicht feststellt, dass die Vereinbarung hinfällig, unwirksam oder nicht erfüllbar ist. Erklärt sich jedoch das vereinbarte Schiedsgericht mit Sitz im Ausland mit der Begründung für unzuständig, eine Partei sei von der Schiedsvereinbarung nicht erfasst, so ist dieser Schiedsentscheid — unter Vorbehalt seiner Anerkennung — für jedes später angerufene staatliche Gericht in der Schweiz bindend (…). Mit Blick auf diese Bindungswirkung entfällt die Pflicht der staatlichen Gerichte, die Parteien gemäss Art. II Abs. 3 NYÜ auf das Schiedsverfahren zu verweisen, wenn sich das zwischen den Parteien vereinbarte Schiedsgericht mit der Begründung für unzuständig erklärt, eine Partei sei von der Schiedsvereinbarung nicht erfasst, und dieser Schiedsentscheid anerkannt wird (…).
7.2.2. Dies rechtfertigt sich auch im Hinblick auf den Zweck von Art. II Abs. 3 NYÜ. Diese Bestimmung soll die zwischen den Parteien bestehende Verpflichtung zur Durchführung eines Schiedsverfahrens für Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem betreffenden Rechtsverhältnis zur Durchsetzung verhelfen (…). Erklärt sich jedoch das vereinbarte Schiedsgericht nach pflichtgemässer Einleitung des Schiedsverfahrens mit der Begründung für unzuständig, eine Partei sei von der Schiedsvereinbarung nicht erfasst, so kann diese Pflicht nicht mehr erfüllt werden. Die weitere Durchsetzung dieser Pflicht durch die staatlichen Gerichte würde daher zu einem negativen Kompetenzkonflikt führen, bei dem sich sowohl das vereinbarte Schiedsgericht als auch die staatlichen Gerichte jeweils für unzuständig erklären würden und im Ergebnis der Justizgewährleistungsanspruch der klagenden Partei gefährdet wäre (…).”
Im konkreten Fall erwog das Bundesgericht, dass das vereinbarte Schiedsgericht mit der Begründung für unzuständig erklärt hat, die Beschwerdeführerin sei nicht Partei der Schiedsvereinbarung. Damit lag — so das Bundesgericht — ein abschliessender und bindender Entscheid über die Frage der Zuständigkeit des vereinbarten Schiedsgerichts vor. Da die Gesuchsgegnerin nicht geltend machte, dass dieses Schiedsurteil in der Schweiz nicht anerkannt worden wäre und deshalb von der Vorinstanz nicht hätte berücksichtigt werden dürfen, war die Vorinstanz nach Ansicht des Bundesgerichts an diesen Zuständigkeitsentscheid des Schiedsgerichts gebunden und daher weder verpflichtet noch berechtigt, die Parteien erneut gemäss Art. II Abs. 3 NYÜ auf das Schiedsverfahren zu verweisen (E. 7.3).