5A_435/2023: Zuständigkeit der Berufungsinstanz für Gesuch um Prozesskostenvorschuss (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 5A_435/2023 vom 21. Novem­ber 2024 hat das Bun­des­gericht entsch­ieden, dass sich die funk­tionelle Zuständigkeit für die Beurteilung eines Gesuchs um Leis­tung eines Prozesskosten­vorschuss­es aus Art. 276 ZPO ergibt. Die Kan­tone sind dies­bezüglich nicht befugt, die funk­tionelle Zuständigkeit im Sinn von Art. 4 ZPO anders zu regeln. Fol­glich ist die mit dem Schei­dungsver­fahren befasste Beru­fungsin­stanz für den Entscheid über ein Gesuch um Leis­tung eines Prozesskosten­vorschuss­es für das Beru­fungsver­fahren zuständig.

Sachver­halt

Zwis­chen A und B war vor dem Oberg­ericht Aar­gau das Beru­fungsver­fahren betr­e­f­fend Eheschei­dung hängig. B stellte beim Bezirks­gericht Laufen­burg ein Gesuch um Leis­tung eines Prozesskosten­vorschuss­es für das Beru­fungsver­fahren zu Las­ten von A. Das Bezirks­gericht trat auf das Gesuch nicht ein. Das Oberg­ericht hiess die dage­gen von B erhobene Beru­fung gut, hob den bezirks­gerichtlichen Entscheid auf und wies die Sache zur weit­eren Beurteilung an das Bezirks­gericht zurück. Das Oberg­ericht führte begrün­dend aus, dass nach langjähriger kan­tonaler Prax­is, die sich ins­beson­dere aus dem Ein­führungs­ge­setz zur Schweiz­erischen Zivil­prozes­sor­d­nung vom 23. März 2010 ergebe, das erstin­stan­zliche (Massnahme-)Gericht für in Rechtsmit­telver­fahren gestellte Gesuche um vor­sor­gliche Mass­nah­men gemäss Art. 276 ZPO bzw. erst­mals gestellte Prozesskosten­vorschuss­begehren zuständig sei. A erhob dage­gen Beschw­erde beim Bun­des­gericht und beantragte, auf das Gesuch um Prozesskosten­vorschuss sei nicht einzutreten.

Erwä­gun­gen

Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­erde gegen den Entscheid des Oberg­ericht­es gut, hob diesen teil­weise auf und stellte fest, dass Art. 276 ZPO die funk­tionelle Zuständigkeit für Prozesskosten­vorschuss­begehren vorse­he. Es beste­he kein Raum für den Kan­ton Aar­gau, diese Zuständigkeit abwe­ichend zu regeln. Die Beru­fungsin­stanz, bei der das Schei­dungsver­fahren hängig sei, sei zum Entscheid über ein Prozesskosten­vorschuss­ge­such für das Beru­fungsver­fahren zuständig (E. 6.4).

Dabei erachtete das Bun­des­gericht für seine Ausle­gung von Art. 276 ZPO im Wesentlichen vier Gründe als massgeblich:

  1. Gemäss Art. 276 Abs. 1 ZPO tre­ffe “das Gericht” die nöti­gen vor­sor­glichen Mass­nah­men. Gemeint sei damit das Schei­dungs­gericht, das ab Recht­shängigkeit der Schei­dung die notwendi­gen vor­sor­glichen Mass­nah­men tre­ffe bzw. hierzu sach­lich zuständig sei (E. 6.2.1);
  2. Der Beru­fung komme ein soge­nan­nter “Devo­lu­tiv­ef­fekt” zu. Ein Gericht ver­liere seine Gerichts­barkeit, sobald es in der Sache sein Urteil gefällt habe und Art. 315 Abs. 2 ZPO über­trage die Zuständigkeit zum Entscheid über die vorzeit­ige Voll­streck­ung, die Anord­nung sich­ern­der Mass­nah­men oder der Leis­tung ein­er Sicher­heit der Rechtsmit­telin­stanz (E. 6.2.2);
  3. Der von Art. 75 Abs. 2 BGG vorgegebene Grund­satz des dop­pel­ten Instanzen­zugs ste­he ein­er Entschei­dzuständigkeit der Beru­fungsin­stanz nicht ent­ge­gen. Im Hin­blick auf Art. 75 Abs. 2 lit. a‑c zusät­zliche Aus­nah­men vom Grund­satz des dop­pel­ten Instanzen­zuges wür­den sich recht­fer­ti­gen, wenn das Zivil­prozess­recht dem oberen Gericht die funk­tionelle Kom­pe­tenz ein­räume. Das habe das Bun­des­gericht bere­its in früheren Entschei­dun­gen ins­beson­dere für vor­sor­gliche Mass­nah­men im Schei­dungs- oder Eheschutzver­fahren, die vom Beru­fungs­gericht ange­ord­net wor­den seien, oder im Fall eines Entschei­ds der Beru­fungsin­stanz über ein bei ihm ein­gere­icht­es Prozesskosten­vorschuss­ge­such, fest­ge­hal­ten (E. 6.2.3);
  4. Auch die Botschaft zur Schweiz­erischen Zivil­prozes­sor­d­nung spreche für eine Absicht des Geset­zge­bers, die Beru­fungsin­stanz zum Entscheid über vor­sor­gliche Mass­nah­men, die bei ihr beantragt wer­den, funk­tionell zuständig zu erk­lären. Im Zusam­men­hang mit den Regelun­gen zur Beru­fung und dem Devo­lu­tiv­ef­fekt sei in der Botschaft erläutert wor­den, dass das obere Gericht ins­beson­dere entschei­de, ob vor­sor­gliche Anord­nun­gen zu tre­f­fen seien. Würde die erste Instanz zuständig bleiben, so kön­nten die betr­e­f­fend­en Ver­fü­gun­gen wiederum mit Beru­fung oder Beschw­erde ange­focht­en wer­den, was eine unnötige Kom­p­lika­tion bedeute. Dieses Ver­ständ­nis entspreche somit auch dem mit der Ein­führung der Schweiz­erischen Zivil­prozes­sor­d­nung ver­fol­gten Zweck zur Vere­in­heitlichung des Zivil­prozess­rechts (E. 6.2.4).

 

Kom­men­tar

Mit seinem Entscheid klärt das Bun­des­gericht die kan­ton­al unter­schiedlich behan­delte Frage der funk­tionellen Zuständigkeit für die Beurteilung von Prozesskosten­vorschuss­begehren für das Rechtsmit­telver­fahren. Der Entscheid vere­in­facht die Gel­tend­machung von Prozesskosten­vorschuss­begehren für Rechtssuchende, indem sie kün­ftig in allen Kan­to­nen ihr Gesuch um Leis­tung eines Prozesskosten­vorschuss­es für das Beru­fungsver­fahren bei der Beru­fungsin­stanz ein­re­ichen kön­nen. Gle­ichzeit­ig hat nun die Beru­fungsin­stanz sowohl über die Haupt­sache als auch über das Gesuch um Prozesskosten­vorschuss sowie über ein allfäl­liges Even­tu­al­begehren um unent­geltliche Recht­spflege für das Beru­fungsver­fahren zu entschei­den (Art. 119 Abs. 5 ZPO). Dies erhöht die Ver­fahrensef­fizienz, da grund­sät­zlich allen drei Ver­fahren die (gle­ichen) finanziellen Ver­hält­nisse der Parteien zugrunde liegen.