6B_540/2009: Beschwerdelegitimation des Geschädigten

In seinem Urteil 6B_540/2009 vom 22. Okto­ber 2009, das zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­hen ist, bestätigte das Bun­des­gericht seine im Schrift­tum kri­tisierte Recht­sprechung (vgl. BGE 133 IV 228 E. 2.3.3), wonach ein Geschädigter grund­sät­zlich nicht zur Beschw­erde in Straf­sachen nach Art. 81 BGG legit­imiert ist.

Die Ablehnung ein­er Beschw­erdele­git­i­ma­tion begrün­det das Bun­des­gericht zunächst unter Ver­weis auf die Botschaft zur Total­re­vi­sion der Bun­desrecht­spflege und mit dem Wort­laut der Norm:

1.6 […] Eine Legit­i­ma­tion des Geschädigten zur Beschw­erde in Straf­sachen im strafrechtlichen Schuld­punkt wäre im Ver­gle­ich zum bish­eri­gen Recht eine radikale Neuerung, welche im Übri­gen eine erhe­bliche Zunahme von Beschw­er­den an das Bun­des­gericht zur Folge hätte, zumal die Beschw­erde in Straf­sachen als soge­nan­nte „Ein­heits­beschw­erde“ sowohl die eid­genös­sis­che Nichtigkeits­beschw­erde als auch die staat­srechtliche Beschw­erde gemäss den früheren Ver­fahren­sor­d­nun­gen erset­zt. Eine solche radikale Änderung im Ver­gle­ich zum früheren Recht wäre in der Botschaft des Bun­desrates zweifel­los aus­führlich dargestellt wor­den. Die Botschaft enthält jedoch keine dies­bezüglichen Aus­führun­gen, was den Schluss nahe legt, dass nach dem Willen des Geset­zge­bers der Geschädigte, der nicht Opfer im Sinne des Opfer­hil­fege­set­zes ist, nicht zur Beschw­erde in Straf­sachen im strafrechtlichen Schuld­punkt legit­imiert ist[…]. […]

1.7.1 Der Geschädigte ist eine zen­trale Per­son im Straf­prozess­recht. Wäre er im Schuld­punkt zur Beschw­erde in Straf­sachen legit­imiert, so müsste er in der beispiel­haften Aufzäh­lung der ins­beson­dere zur Beschw­erde Berechtigten in Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG vernün­ftiger­weise genan­nt wer­den. Wenn […] der Pri­vat­strafk­läger, das Opfer und der Strafantrag­steller aus­drück­lich erwäh­nt wer­den, die unter gewis­sen Voraus­set­zun­gen zur Beschw­erde in Straf­sachen berechtigt sind, so legt dies die Ausle­gung nahe, dass der Geschädigte […] zur Beschw­erde im Schuld­punkt nicht legit­imiert ist. Dass die Aufzäh­lung der Beschw­erde­berechtigten in Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG im Unter­schied zur Aufzäh­lung im früheren Artikel 270 BStP expliz­it keine abschliessende ist, lässt nicht den Schluss zu, dass abwe­ichend vom früheren Recht nun auch der Geschädigte, der nicht Opfer ist, zur Beschw­erde in Straf­sachen im Schuld­punkt berechtigt ist.

Darüber hin­aus, so die Argu­men­ta­tion des Bun­des­gerichts, ergebe sich die Beschw­erdele­git­i­ma­tion auch nicht unter dem Aspekt des rechtlich geschützten Interesses:

1.7.2 Die Legit­i­ma­tion des Geschädigten zur Beschw­erde in Straf­sachen im Schuld­punkt lässt sich nicht auf die Gen­er­alk­lausel des „rechtlich geschützten Inter­ess­es“ an der Aufhe­bung oder Änderung des Entschei­ds stützen. Der Geschädigte hat an der strafrechtlichen Ver­fol­gung und Verurteilung des Beschuldigten nur ein tat­säch­lich­es beziehungsweise mit­tel­bares, aber kein rechtlich geschütztes Inter­esse, da der Strafanspruch allein dem Staat zuste­ht. […] Die Gen­er­alk­lausel des „rechtlich geschützten Inter­ess­es“ im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG knüpft an die frühere Regelung in Art. 88 OG an. Die Botschaft zur Total­re­vi­sion der Bun­desrecht­spflege hält aus­drück­lich fest, dass die materielle Voraus­set­zung eines rechtlich geschützten Inter­ess­es der heuti­gen Recht­slage entspreche (BBl 2001 4202 ff., 4318). Der Geschädigte ist somit im Schuld­punkt man­gels eines rechtlich geschützten Inter­ess­es im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG nicht zur Beschw­erde in Straf­sachen berechtigt, so wie er insoweit nach dem früheren Recht wed­er zur staat­srechtlichen Beschw­erde noch zur eid­genös­sis­chen Nichtigkeits­beschw­erde legit­imiert war. Dies gilt ent­ge­gen der Mei­n­ung des Beschw­erde­führers nicht nur, wenn sich die Beschw­erde gegen einen Nichteröff­nungs- oder Ein­stel­lungs­beschluss richtet, son­dern auch, wenn ein freis­prechen­des Urteil Gegen­stand der Beschw­erde bildet. Der Geschädigte kann somit einen freis­prechen­den oder das Ver­fahren ein­stel­len­den Entscheid nicht mit­tels Beschw­erde in Straf­sachen anfecht­en etwa mit der Begrün­dung, dass die Vorin­stanz die Beweise willkür­lich gewürdigt oder ein Tatbe­standsmerk­mal zu Unrecht verneint habe.

Abschliessend hält das Bun­des­gericht jedoch fest, dass auch Geschädigte unter Umstän­den ein rechtlich geschütztes Inter­esse und damit eine Beschw­erdele­git­i­ma­tion innehaben:

1.9 Der Geschädigte kann mit der Beschw­erde in Straf­sachen […] die Ver­let­zung von Recht­en rügen, die ihm als am Ver­fahren beteiligte Partei nach dem mass­geben­den Prozess­recht oder unmit­tel­bar auf­grund der BV oder der EMRK zuste­hen. Insoweit hat der Geschädigte ein rechtlich geschütztes Inter­esse im Sinne von Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG (Urteile 1B_134/2008 vom 18. August 2008 E. 1.2; 6B_686/2007 vom 21. Feb­ru­ar 2008 E. 3). Ein rechtlich geschütztes Inter­esse an der Aufhe­bung oder Änderung des Entschei­ds hat der Geschädigte auch im Zivilpunkt, falls insoweit die Beschw­erde in Straf­sachen über­haupt zur Ver­fü­gung ste­ht, was gemäss Art. 78 Abs. 2 lit. a BGG davon abhängt, ob die Zivi­lansprüche zusam­men mit der Straf­sache zu behan­deln sind. Fern­er hat der Geschädigte ein rechtlich geschütztes Inter­esse, soweit es gemäss Art. 73 StGB um die Ver­wen­dung von einge­zo­ge­nen Ver­mö­genswerten zu seinen Gun­sten geht (Urteil 1B_212/2007 vom 12. März 2008 E. 1.4).