In seinem Urteil vom 16. September 2010 (6B_444/2010) trifft das Bundesgericht eine seiner wenigen Entscheidungen zur Strafbarkeit wegen Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz (HMG).
Beschwerdeführerin X., die fachtechnisch verantwortliche Person (FvP) (vgl. Art. 10 AMBV) der Y‑AG, einer Arzneimittel-Grosshändlerin (vgl. Art. 2 lit. e AMBV), hatte in einem Zeitraum von etwa drei Jahren 31 Medikamentenlieferungen (z.B. Appetitzügler, Abführmittel, Tropfen gegen Haarausfall sowie Tabletten zur Senkung der Blutfettwerte, gegen Nikotinabhängigkeit und Erektionsstörungen) an den Psychiater Dr. med. A mit einem Rechnungsbetrag von Fr. 98’000.– zugelassen. Das Kantonsgericht St. Gallen sah in diesem Verhalten eine Verletzung der heilmittelrechtlichen Sorgfaltspflichten.
Das Bundesgericht stützt diese Auffassung und erkennt in den Lieferungen ebenfalls einen Verstoss gegen die Regeln der “guten Grosshandelspraxis”:
6.3 Der Beschwerdeführerin wird ein Verstoss gegen die Regeln der guten Vertriebspraxis nach Art. 29 Abs. 1 HMG (i.V.m. Art. 87 Abs. 1 lit. f HMG i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. a HMG i.V.m. Art. 3 HMG) zur Last gelegt. Die Regeln der “Guten Vertriebspraxis” werden im Verordnungsrecht konkretisiert (vgl. Art. 29 Abs. 2 HMG, Art. 9 Abs. 2 AMBV, Anhang 2 lit a und b AMBV, Art. 80 lit. c der Richtlinie 2001/83/EG und Ziff. 17 der Leitlinie 94/C 63/03). Daraus ergibt sich, dass Grosshändler nur Medikamente an Personen abgeben dürfen, welche ihrerseits berechtigt sind, diese weiterzugeben. Die Zulässigkeit der Selbstdispensation durch Ärzte wird vom kantonalen Recht geregelt. Nach § 7 Abs. 1 lit. c aGesG/ZH war im massgebenden Zeitraum eine Bewilligung erforderlich, um Arzneimittel im Gross- oder Kleinhandel abzugeben. Nur Ärzten ausserhalb der Stadt Zürich und Winterthur wurde eine solche Bewilligung zur Führung einer Privatapotheke erteilt (vgl. § 17 aGesG/ZH). Ansonsten war die Abgabe von Arzneimittel an Verbraucher auf Apotheken beschränkt (§ 65 Abs. 1 aGesG). […] Nichts daran ändert die Tatsache, dass das Abgabeverbot in der Praxis aufgrund eines Verwaltungsgerichtsentscheids […] im Einzelfall, vorab bei Notfällen, gelockert wurde.
7.2 Dieses Verbot dient dazu, die Sicherheit der Patienten bei der Abgabe verschreibungspflichtiger Medikamente zu gewährleisten. Denn damit wird die Medikation zweifach, nämlich durch einen Arzt und einen studierten Apotheker fachgerecht und aus mehreren Perspektiven geprüft. Nur in Notfällen sowie ausserhalb der Städte Zürich und Winterthur kann die doppelte Prüfung umgangen werden. Dies liegt daran, dass der Gesetzgeber die rasche Versorgung des Patienten — welche zu Unzeiten bzw. bei geringer Apothekendichte nicht sichergestellt ist — höher gewichtet hat, als das Risiko einer Fehlmedikation.
Im vorliegenden Fall war ein Gesuch von Dr. A. um Führung einer Privatapotheke abgewiesen worden, so dass er für den fraglichen Zeitraum über keine Selbstdispensationsbewilligung (d.h. Bewilligung zur Abgabe eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels durch die Medizinalperson selbst, vgl. Art. 24 HMG) verfügte. Es war ihm nach der Praxis des Verwaltungsgerichts Zürich also nur gestattet, in Notfällen und für die sogenannte “Direktversorgung” (d.h. in Notfällen, in welchen der Arzt selbst Medikamente verabreicht bzw. am Patienten anwendet) direkt Medikamente an Patienten abzugeben. Die Lieferberechtigung des Grosshändlers, hier der Y.-AG, muss sich aber an der Abgabeberechtigung des Empfängers orientieren, denn § 33 aGesG/ZH bestimmt, dass Arzneimittel von einem Grosshändler nur an Personen geliefert werden dürfen, die befugt gewesen sind, sie weiterzugeben oder anzuwenden. Nur im Umfang seiner Abgabeberechtigung war es somit rechtlich zulässig, Dr. A. mit Medikamenten zu beliefern.
Zwar existieren keine allgemeingültigen Listen mit Arzneimitteln für die Notfall- und Direktversorgung. Dafür sei die Fachrichtung des Arztes entscheidend, und es bestehe ein gewisser Ermessensspielraum. Die Beschwerdeführerin verfügt auch, so das Bundesgericht, als fachtechnisch verantwortliche Person der Y.-AG über die notwendige Ausbildung, Sachkenntnis und Erfahrung, da sie Inhaberin eines Apothekerdiploms bzw. einer gleichwertigen Ausbildung sein müsse (Art. 10 Abs. 2 und Art. 5 AMBV). In dieser Funktion musste sie den sachgemässen Umgang mit Arzneimitteln sicherstellen (vgl. Art. 5 Abs. 1 AMBV). Sie trägt die gesundheitspolizeiliche Verantwortung für die Sicherheit der hergestellten und freigegebenen Arzneimittel, weil sie betriebsintern für die Einhaltung der Regeln der “Guten Vertriebspraxis” verantwortlich ist (Art. 5, 10 und 14 AMBV). Sie muss nach Ziff. 6 der Leitlinie 94/C 63/03 die betrieblichen Arbeitsvorgänge überwachen, so etwa die Annahme und Kontrolle der Lieferungen, die Entnahme aus dem Verkaufslager und die Dokumentation der Kundenaufträge.
In dieser Verletzung der generellen Sorgfaltspflichten (vgl. Art. 3 HMG) sah das Bundesgericht eine abstrakte Gesundheitsgefährdung und damit eine Strafbarkeit nach dem HMG:
4.2.3 […] Eine weitergehende Auseinandersetzung mit möglichen Gesundheitsgefahren ist nicht erforderlich. Denn die Vorschriften des Heilmittelgesetzes dienen dazu, die Gesundheit von Mensch und Tier zu schützen (Art. 1 Abs. 1 HMG). Wird eine solche Vorschrift (wie die Regeln der “Guten Vertriebspraxis”) […] verletzt, ist davon auszugehen, dass eine abstrakte Gefahr für die Gesundheit anderer gegeben ist. Dies gilt insbesondere, weil durch die ärztliche Abgabe von Medikamenten die im Kanton Zürich zur Tatzeit gesetzlich vorgesehene, doppelte Kontrolle durch Arzt und Apotheker ausgeschaltet wird und die Medikamentenabgabe nicht zum Kerngeschäft eines Arztes zählt (vgl. BGE 131 I 205 E. 3.2 S. 214 ff.; § 7 Abs. 1 lit. c, § 17, § 33 und § 65 aGesG/ZH […]).
Indem die Beschwerdeführerin die Bestellungen von Dr. med. A. unbesehen verarbeitet und die gewünschten Medikamente geliefert hat, schuf sie die abstrakte Gefahr einer Fehlmedikation. Dass die Beschwerdeführerin nicht alle Kontrollen der bestellten Ware selbst durchführen kann, entlastet sie als fachtechnisch verantwortliche Person nicht. Denn sie hat jegliche Kontrolle unterlassen und nicht dafür gesorgt, dass ihr zumindest auffällige, umfangreiche oder häufige Bestellungen bzw. jene aus dem Gebiet mit einem grundsätzlichen Abgabeverbot unterbreitet werden. Entgegen ihrer Auffassung sind Weisungen nicht schlechterdings ungeeignet, um den Vollzug des Heilmittelgesetzes sicherzustellen. Sie verfügt als studierte Apothekerin über das notwendige Wissen, pro Arztkategorie interne Kontrollmechanismen einzuführen. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, können auch umsatzbezogene Kriterien helfen, kritische Bestellungen aufzudecken.