In einem Urteil vom 11. Juli 2011 beschäftigt sich das Bundesgericht mit dem strafprozessualen Grundsatz „in dubio pro duriore“, wonach eine Einstellung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft nur bei klarer Straflosigkeit bzw. offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen verfügt werden darf (1B_123/2011; für die amtliche Sammlung vorgesehen).
Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer Strafanzeige (gegen Unbekannt) wegen schwerer Körperverletzung durch das verantwortliche medizinische Personal in einer Klinik gestellt, wo er wegen ausgeprägter Anämie (Eisenmangel) behandelt worden war. Die daraufhin eingeleitete Strafuntersuchung wurde mangels strafbarer Handlung durch das Amtshalterstattamt Luzern definitiv eingestellt; den dagegen eingereichte Rekurs wies das Obergericht Luzern ab. Vor dem Bundesgericht führte der Beschwerdeführer aus, mehrere Behandlungsfehler hätten bei ihm wahrscheinlich das Auftreten von gentoxischem nicht-transferringebundenem Eisen (NBTI) verursacht. Es seien zwar noch keine akuten Gesundheitsschäden feststellbar, aber es bestehe die konkrete und erhöhte Gefahr langfristiger Schädigungen, namentlich ein durch Gentoxizität erhöhtes Krebsrisiko. Daher sei das Strafverfahren durch die Untersuchungsbehörde zu Unrecht mangels Tatbestands eingestellt worden.
Im Hinblick auf definitive Verfahrenseinstellung verweist das Bundesgericht auf den „in dubio pro duriore“-Grundsatz, der sich hier nach bisherigem Luzerner Strafprozessrecht richtet:
7.1 […] In Zweifelsfällen hat hingegen eine Anklage und gerichtliche Beurteilung zu erfolgen (sofern der Fall nicht mit Strafbefehl bzw. Strafverfügung erledigt werden kann). Dieser Rechtsprechung folgt auch die Luzerner Praxis (in Anwendung von §§ 125 f. StPO/LU). Eine Überweisung an das Gericht ist insbesondere dann zu verfügen, wenn zwar eher ein Freispruch zu erwarten ist, eine Verurteilung aber nicht als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden kann (vgl. LGVE 2005 I Nr. 66; 1983 I Nr. 65).
7.2 Auch nach neuer Eidg. StPO gilt der Grundsatz „im Zweifel für die Anklageerhebung“ bzw. „in dubio pro duriore“, der zwar — wie nach bisherigem Luzerner Strafprozessrecht — nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt ist, sich aber indirekt aus Art. 324 Abs. 1 i.V.m. Art. 319 Abs. 1 StPO ergibt (vgl. Botschaft StPO, BBl 2006 S. 1273 […]).
Der “in dubio pro reo”-Grundsatzes kommt, so das Bundesgericht weiter, während des Untersuchungsverfahrens nicht zur Awendung:
7.3 Entgegen der (im Rekursverfahren geäusserten) Ansicht der Staatsanwaltschaft ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ (vgl. Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 10 Abs. 3 StPO) auf die Frage der Einstellung oder Anklageerhebung im Untersuchungsstadium gerade nicht anwendbar (vgl. Botschaft StPO, BBl 2006 S. 1273 […]). Er kommt (insbesondere als Beweiswürdigungsregel) vielmehr bei der richterlichen Prüfung sämtlicher massgeblicher Beweisergebnisse zum Zuge (vgl. BGE 120 Ia 31 E. 2b‑e S. 35–38 […].
Hier lag weder ein Fall klarer Straflosigkeit vor, noch fehlt es offensichtlich an einer gesetzlichen Prozessvoraussetzung:
8. […] Ob der objektive Tatbestand einer schweren Körperverletzung erfüllt sei, wird auch im angefochtenen Entscheid als „fraglich“ eingestuft. Die Argumentation der Vorinstanz erscheint überdies widersprüchlich. Einerseits schliesst sie eine Wirkungsabnahme bzw. eine kurzfristige Instabilität des fraglichen Medikaments aufgrund der erfolgten Verdünnung „theoretisch“ nicht aus. Anderseits geht sie (ohne medizinische Abklärungen) davon aus, dass „keine nachteilige Wirkung“ eingetreten sei.
Die Erwägungen des angefochtenen Entscheides verletzen nach dem bundesgerichtlichen Urteil wichtige Grundsätze des Strafprozessrechts:
8.1 In diesem Zusammenhang erscheint die Beweiswürdigung der kantonalen Instanzen bzw. ihre Ablehnung weiterer Untersuchungshandlungen (in sogenannter „antizipierter Beweiswürdigung“) sachlich nicht nachvollziehbar. Dies gilt namentlich für die Ablehnung des vom Beschwerdeführer beantragten medizinischen Gutachtens sowie für das vollständige Fehlen von Einvernahmen der medizinisch verantwortlichen Personen und des Beschwerdeführers. Das Einholen einer Expertise sowie weitere Untersuchungsmassnahmen drängen sich hier geradezu auf.
8.2.3 […] Sie verletzen im Ergebnis den strafprozessualen Untersuchungsgrundsatz (vgl. § 60 f. StPO/LU; Art. 6 und Art. 139 Abs. 1 StPO) und setzen sich mit den Vorbringen des Beschwerdeführers im Rekursverfahren nicht genügend auseinander.
Die definitive Einstellung des Strafverfahrens erkennt das Bundesgericht hier als bundesrechtswidrig (Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV, strafprozessualer Grundsatz „in dubio pro duriore“, Untersuchungsmaxime, rechtliches Gehör, Art. 122–125 StGB).
Siehe auch die diesbezüglichen Beiträge der NZZ und auf strafprozess.ch.