1C_176/2011: Unterlagen zu UStR II verletzten Abstimmungsfreiheit, Beschwerde trotzdem abgewiesen (amtl. Publ.)

Nation­al­rätin Mar­gret Kiener Nellen reichte Rechtsmit­tel gegen das Abstim­mungsergeb­nis zur UStR II zunächst beim Regierungsrat des Kan­tons Bern und dann beim BGer ein. Das BGer weist die Beschw­erde ab.

Aus dem aus­führlich begrün­de­ten Entscheid:

  • E. 3: Die Erwahrung von Abstim­mungsergeb­nis­sen durch den Bun­desrat fol­gt der gerichtlichen Entschei­dung nach. Die poli­tis­chen Behör­den sind an die Jus­ti­zentschei­de gebunden. 
  • E. 4.2: Die Beschw­erde bei der Kan­ton­sregierung wegen Unregelmäs­sigkeit­en bei eidg. Abstim­mungen ist innert dreier Tage seit Ent­deck­ung des Beschw­erde­grunds einzure­ichen (BPR 77 I und II). Diese Frist ist als Ver­wirkungs­frist zu betrachten.
  • E. 4.3: Das BPR weist mit Blick auf den nachträglichen Rechtss­chutz eine “namhafte Lücke” auf. Das BPR ist in dem Sinne ver­fas­sungskon­form auszule­gen, dass die in BPR 77 II genan­nten Beschw­erde­fris­ten die Möglichkeit ein­er Wieder­erwä­gung oder Revi­sion nicht ausschliessen. 
  • E. 4.5: Voraus­set­zung für die Über­prü­fung ein­er Volksab­stim­mung ist das Vor­brin­gen von gravieren­den Män­geln, die die Abstim­mung mass­ge­blich bee­in­flusst haben und das Abstim­mungsver­fahren als frag­würdig erscheinen lassen kön­nen. Die vorge­bracht­en Tat­sachen und Beweis­mit­tel dür­fen im Zeitraum der Abstim­mung nicht bekan­nt gewe­sen sein.
  • E 4.8: Ein Anspruch auf nachträgliche Über­prü­fung der Regel­haftigkeit ein­er Volksab­stim­mung ergibt sich direkt aus der Ver­fas­sung. Das BPR ist in diesem Sinne ver­fas­sungskon­form auszule­gen und anzuwen­den. Das Bun­des­gericht ist nach BV 189 I lit. f zuständig.
  • E. 6 bis 8 materielle Prü­fung der Beschwerde.
  • E. 8.6: Den Stimm­berechtigten fehlten die auss­chlaggebende Ele­mente für die Mei­n­ungs­bil­dung und ‑äusserung. Die bun­desrätlichen Abstim­mungser­läuterun­gen ver­mit­tel­ten ihnen die uner­lässliche Trans­parenz nicht. Die umfassende Betra­ch­tung des Vor­feldes der Abstim­mung führt somit zum Schluss, dass die ver­fas­sungsmäs­sig geschützte Abstim­mungs­frei­heit anlässlich der Volksab­stim­mung vom 24. Feb­ru­ar 2008 ver­let­zt wor­den ist. Dieser Ver­let­zung kommt umso grösseres Gewicht zu, als die Möglichkeit nicht auszuschliessen ist, dass sie sich wegen ihrer Schwere und in Anbe­tra­cht des knap­pen Resul­tats auf den Aus­gang tat­säch­lich aus­gewirkt hat.
  • E. 8.7: Prozes­suale Fol­gen aus der Ver­let­zung der Abstim­mungs­frei­heit. Die Geset­zesvor­lage ist bere­its in Kraft und wurde auch bere­its umgesetzt.

Der Grund­satz der Rechtssicher­heit gebi­etet Beständigkeit von in Kraft ste­hen­dem Geset­zes­recht. Es würde den Grund­sätzen von Treu und Glauben krass wider­sprechen, wenn die auf das Unternehmenss­teuer­refor­mge­setz gestützten Dis­po­si­tio­nen nachträglich durch Aufhe­bung der Volksab­stim­mung ihre Grund­lage ver­lieren und dem­nach dahin­fall­en wür­den. Unter Aspek­ten der Rechts­gle­ich­heit wäre kaum denkbar, dass bish­er getrof­fe­nen Dis­po­si­tio­nen aus Grün­den von Treu und Glauben Bestand zuge­bil­ligt würde, neu angemeldete Vorkehren aber wegen Aufhe­bung der geset­zlichen Grund­lage nicht mehr berück­sichtigt wür­den. Auf der andern Seite haben die Behör­den die Unternehmenss­teuer­reform bere­its umge­set­zt und in zahlre­ichen Fällen angewen­det. Bei dieser Sach­lage ist auch unter prak­tis­chen Gesicht­spunk­ten kaum vorstell­bar, wie all die vorgenomme­nen Vorkehren steuertech­nisch rück­wirk­end aufge­hoben wür­den. Schliesslich ist all­ge­mein zu bedenken, dass eine Wieder­hol­ung ein­er Abstim­mung kaum mehr unter gle­ichen Voraus­set­zun­gen und Bedin­gun­gen vorgenom­men wer­den kann. Aus ein­er gesamten Abwä­gung her­aus ergibt sich, dass die Aufhe­bung der Abstim­mung vom 24. Feb­ru­ar 2008 nicht in Betra­cht fällt. Dem­nach ist der entsprechende Antrag der Beschw­erde­führerin abzuweisen.

NR Daniel Jositsch reichte beim Regierungsrat des Kan­tons Zürich eine Beschw­erde mit iden­tis­chen Rechts­begehren ein. Auch seine Beschw­erde wurde vom BGer abgewiesen. Der Entscheid Jositsch ist iden­tisch mit dem Entscheid Kiener Nellen (jedoch keine BGE-Publikation).Link