2C_708/2012: Unterscheidung Verwirkung des behördlichen Besteuerungsanspruchs von harmonisierungsrechtlicher Verjährung; kein anfechtbarer Entscheid mehr innerhalb Verwirkungsfrist erforderlich (amtl. Publ.)

Im Entscheid äusserte sich das BGer im Rah­men ein­er Beschw­erde wegen
interkan­tonaler Dop­pelbesteuerung zur Ver­wirkung des Besteuerungsanspruchs
durch eine Steuer­be­hörde
. Das Insti­tut der Ver­wirkung des Besteuerungsanspruchs dient dem Schutz der Behörde des anderen Kan­tons und kann nicht durch die steuerpflichtige Per­son gel­tend gemacht wer­den. Auch bei der Ver­wirkung ist nach der neuen Prax­is die rechtzeit­ige erste nach aussen wirk­same Hand­lung der Steuer­be­hörde fristwahrend.

(E3.2) Prax­is­gemäss ver­wirkt ein Kan­ton im interkan­tonalen Steuerver­hält­nis sein Besteuerungsrecht
gegenüber der steuerpflichti­gen Per­son, wenn:

a) dieser Kan­ton die für die Steuerpflicht erhe­blichen Tat­sachen ken­nt oder
zumin­d­est ken­nen kann,

b) er dessen ungeachtet mit der Erhe­bung des Steuer­anspruchs unge­bührlich lange
zuwartet
,
c) auf­grund des Bezugs des unge­bührlich spät gel­tend gemacht­en Anspruchs ein
ander­er Kan­ton zur Rück­er­stat­tung von Steuern verpflichtet wer­den müsste
, die
er formell kor­rekt, in guten Treuen und in Unken­nt­nis des kollidierenden
Steuer­anspruchs bezo­gen hat (BGE
137 I 273 E. 3.3.4 S. 279 f.; ).

Das Insti­tut der Ver­wirkung des Besteuerungsrechts eines Kan­tons dient mithin dem
Schutz des oder der anderen Kan­tone (siehe schon BGE
91 I 467 E. 4 S. 475 ff.). Deshalb kann die Ver­wirkung auch nur durch den anderen Kan­ton und nicht durch die steuerpflichtige Per­son gel­tend gemacht wer­den (Urteil 2C_92/2012 vom 17. August 2012 E. 3.1 mit Hin­weisen, in: StR
67/2012 S. 828).

Unge­bührlich
lange”
ist gemäss Recht­sprechung ein Zuwarten des säu­mi­gen Kan­tons, wenn dieser bis zum Ende des Jahres, das der Ver­an­la­gungspe­ri­ode fol­gt. Fallen
Steuer- und Bemes­sungspe­ri­ode auf das Jahr n, läuft die Vernlagungsperiode
während des Jahres n+1. Das Besteuerungsrecht des untäti­gen Kan­tons verwirkt
also am Ende des Jahres n+2 (s. E.3.3).

Die dop­pelbesteuerungsrechtliche Ver­wirkung des Besteuerungsrechts und die har­mon­isierungsrechtliche Ver­jährung sind zu unter­schei­den.

(E3.3) Nach den üblichen Regeln ist zur Wahrung des Rechts auf Vor­nahme der Ver­an­la­gung erforder­lich, dass die Ver­fü­gung vor Ablauf der rel­a­tiv­en fün­fjähri­gen Ver­jährungs­frist erge­ht (Art. 47 Abs. 1 StHG für die kan­tonalen und kom­mu­nalen Steuern, Art. 120 DBG für die direk­te Bun­dess­teuer). Zur Unter­brechung des Laufs der Ver­an­la­gungsver­jährung genügt die schriftliche Mit­teilung der Steuer­be­hörde, worin diese die spätere Ver­an­la­gung der peri­odis­chen Steuer in Aus­sicht stellt und wom­it sie einst­weilen lediglich beab­sichtigt, den Lauf der Ver­jährung zu unter­brechen (Art. 120 Abs. 3 lit. a DBG; BGE 137 I 273 E. 3.4.3 S. 282; BGE 133 II 366 zur Voll­streck­ung ver­jährter peri­odis­ch­er Steueransprüche).

Die genan­nten For­mer­fordernisse sind auch im Dop­pelbesteuerungsrecht relevant.

(E 3.4) So ist es hin­sichtlich der Form der “Erhe­bung” des Steuer­anspruchs nach der neueren Prax­is des Bun­des­gerichts aus­re­ichend, wenn die Steuer­be­hörde (pos­i­tiv) das Ver­an­la­gungsver­fahren inner­halb der (Verwirkungs-)Frist ein­leit­et [Zitate] und zudem her­nach (neg­a­tiv) den Abschluss der Ver­an­la­gungstätigkeit nicht unge­bührlich lange verzögert, es sei denn, die Steuer­be­hörde ver­möge sich hierzu auf hin­re­ichende Gründe zu stützen.

Ein­geleit­et wird die Ver­an­la­gung peri­odis­ch­er Steuern mit der ersten, nach aussen wirk­samen, d. h. in der Regel schriftlichen Hand­lung der Steuer­be­hörde, die auf die Ver­an­la­gung der steuerpflichti­gen Per­son gerichtet ist. Zumeist beste­ht diese Ein­leitung­shand­lung in der Zustel­lung des Steuer­erk­lärungs­for­mu­la­rs (BGE 112 Ib 88 E. 1 S. 90).

Frist­wahrend wirken etwa auch die Mah­nung zur Ein­re­ichung ein­er Steuer­erk­lärung, die Ankündi­gung und Vor­nahme ein­er Buch­prü­fung, die Eröff­nung der defin­i­tiv­en oder bloss pro­vi­sorischen Steuerver­an­la­gung, die Auf­forderung oder Mah­nung zur Zahlung usw. [Zitate] Auch die Zustel­lung ein­er pro­vi­sorischen Steuer­rech­nung auf­grund der Steuer­erk­lärung stellt eine solche Ein­forderung­shand­lung dar.
Die frühere Prax­is, die noch inner­halb der Ver­wirkungs­frist den Erlass
eines anfecht­baren Entschei­des ver­langte
, han­dle es sich um einen
Leis­tungs- (Ver­an­la­gungsver­fü­gung) oder einen Feststellungsentscheid
(Dom­izil­ver­fü­gung), ist insoweit über­holt.


Das BGer äusserte sich in E. 3.6 ausser­dem zu Fra­gen des interkan­tonalen Ver­an­la­gungsver­fahrens, namentlich dass

  • die Steuer­be­hörde des Wohn­sitz- oder Sitzkan­tons den Steuer­be­hör­den der anderen Kan­tone ihre Steuerver­an­la­gung ein­schliesslich der interkan­tonalen Steuer­auss­chei­dung und allfäl­liger Abwe­ichun­gen gegenüber der Steuer­erk­lärung kosten­los mitzuteilen habe, deshalb dem Haupt­s­teuer­dom­izil fak­tisch eine Führungsrolle zukäme und
  • im heuti­gen, von elek­tro­n­is­ch­er Daten­ver­ar­beitung und eben­solchen Kom­mu­nika­tion­s­mit­teln geprägten Ver­an­la­gung­sum­feld es für die Steuer­be­hör­den ger­ade in einem Fall der ausserkan­tonalen selb­ständi­gen Erwerb­stätigkeit angezeigt sei, schon vor Erlass der Ver­an­la­gungsver­fü­gung den Kon­takt zu suchen. Ver­an­lage der Kan­ton des Neben­s­teuer­dom­izils, noch ehe das Haupt­s­teuer­dom­izil seine Ver­an­la­gungsver­fü­gung erlassen hat, könne er dies prax­is­gemäss lediglich auf pro­vi­sorisch­er Basis tun.