5A_195/2016 und 5A_975/2015: Tweets sind grds. öffentlich; Berichterstattung nach dem “Kristallnacht”-Tweet nicht persönlichkeitsverletzend

Das BGer hat­te zwei par­al­lele Fälle im Zusam­men­hang mit der Medi­en­berichter­stat­tung im Anschluss an den “Kristallnacht”-Tweet des Zürcher SVP-Poli­tik­ers Alexan­der M. zu beurteilen (Urteile 5A_195/2016, Beschw­erde gegen Hans Stutz, den Betreiber der Inter­net­seite “Mel­dun­gen zu Recht­sex­trem­is­mus und Ras­sis­mus in der Schweiz”; und  5A_975/2015 gegen AZ Zeitun­gen AG). M. hat­te am 23. Juni 2012 auf Twit­ter fol­gende Mel­dung abgesetzt:

Vielle­icht brauchen wir wieder eine Kristallnacht…diesmal für Moscheen

Dafür wurde M.  wegen Rassendiskri­m­inierung verurteilt (BGer 6B_627/2015).

Zum Urteil 5A_195/2016, Beschwerde gegen Hans Stutz 

Hans Stutz berichtete am 23. Juni 2012 auf sein­er Seite “Mel­dun­gen zu Recht­sex­trem­is­mus und Ras­sis­mus in der Schweiz” über den Tweet. Am erschien sodann am sel­ben Ort ein Bericht unter dem Titel “Eine Redak­tion lässt sich vor­führen”.

M. klagte in der Folge gegen Stutz und ver­langte, dass bes­timmte Pas­sagen der bei­den Berichte ent­fer­nt werden. 

Das BGer äussert sich zunächst zur Frage, inwiefern die Äusserun­gen ein­er Pri­vat­per­son auf ein­er von ihr betriebe­nen Inter­net­seite rechtlich anders zu beurteilen seien als die Berichter­stat­tung der Medien:

[…] Hinge­gen kann sich ein Medi­enun­ternehmen im Zusam­men­hang mit ein­er an sich ver­let­zen­den Aus­sage im vorste­hend dargestell­ten Umfang auf seinen Infor­ma­tion­sauf­trag berufen, welch­er im Zusam­men­hang ste­ht mit der beson­deren Bedeu­tung der Medi­en für das Funk­tion­ieren der demokratis­chen Gesellschaft […]. Auf diesen beson­deren Recht­fer­ti­gungs­grund kann sich der Pri­vate nicht berufen (dies wird teil­weise kri­tisiert, vgl. beispiel­sweise […]). Ihm ist es aber in Wahrnehmung sein­er ver­fas­sungsmäs­sig garantierten Mei­n­ungsäusserungs­frei­heit […] und auf­grund son­stiger Recht­fer­ti­gungs­gründe (ander­weit­ige über­wiegende öffentliche oder pri­vate Inter­essen im Sinn von Art. 28 Abs. 2 ZGB wie z.B. kün­st­lerische Betä­ti­gung, vgl. […]) grund­sät­zlich erlaubt, öffentlich zugängliche Infor­ma­tio­nen weit­erzu­ver­bre­it­en und sich im Rah­men eines Wer­turteils darüber zu äussern […]. Sodann gilt auch im Zusam­men­hang mit Äusserun­gen von gewöhn­lichen Pri­vat­per­so­n­en, dass sich bes­timmte Expo­nen­ten (absolute oder rel­a­tive Per­so­n­en der Zeit­geschichte, namentlich Poli­tik­er) mehr gefall­en lassen müssen und in gewis­sen Gebi­eten (insb. poli­tis­che Diskus­sion und Mei­n­ungs­bil­dung) eine freiere Äusserungsmöglichkeit beste­ht, wobei im Rah­men der Inter­essen­ab­wä­gung häu­fig nicht präzise unter­schieden wird, ob es dabei um eine höhere Schwelle für die Annahme ein­er Ver­let­zung oder um den Recht­fer­ti­gungs­grund des über­wiegen­den öffentlichen Inter­essens geht (in […] wird im Zusam­men­hang mit ein­er Per­son der Zeit­geschichte expliz­it von einem Recht­fer­ti­gungs­grund ausgegangen). 

Das BGer hält sodann fest, dass öffentlich abruf­bare Tweets grund­sät­zlich “öffentlich” sind. Auf eine Dif­feren­zierung nach Anzahl Fol­low­er ist dabei zu verzichten:

Dies­bezüglich ist festzuhal­ten, dass sich der Beschw­erde­führer mit seinem Tweet öffentlich geäussert bzw. er mit sein­er Aus­sage bewusst die Öffentlichkeit gesucht hat. Grund­sät­zlich sind Tweets denn auch nicht für einen bes­timmten Empfänger oder einen geschlosse­nen, vom Sender fest­gelegten Empfängerkreis bes­timmt (der Beschw­erde­führer macht jeden­falls keine ander­weit­i­gen Ein­stel­lun­gen auf seinem Account gel­tend). Im Gegen­teil möchte ein Twit­ter­er typ­is­cher­weise möglichst viele Fol­low­er erre­ichen und hat er ins­beson­dere auf die weit­ere Ver­bre­itung des Tweets keinen Ein­fluss. Vielmehr haben es die Betreiber von Twit­ter — nicht zulet­zt aus kom­merziellen Grün­den — ger­ade darauf angelegt, dass die Fol­low­er emp­fan­gene Tweets weit­er­ver­bre­it­en. Ein ein­fach­er Klick genügt für den sog. Retweet; bei diesem han­delt es sich um einen Teil der für Twit­ter typ­is­chen Ver­bre­itungs­kette. Es ist jedem Twit­ter­er bewusst, dass er über seine Nachricht, ein­mal abge­sandt, und deren weit­ere Ver­bre­itung kein­er­lei Kon­trolle hat, und es ist auch all­ge­mein bekan­nt, dass sich Texte, Bilder und Videos auf ver­schiede­nen Social Media wie ein Virus innert kürzester Zeit um den ganzen Globus aus­bre­it­en kön­nen; im englis­chen Sprachge­brauch ist dieses Phänomen unter dem Aus­druck “it went viral” bekannt.

Zwar bestre­it­et der Beschw­erde­führer die Öffentlichkeit des Tweets in sein­er Beschw­erde sin­ngemäss, indem er gel­tend macht, er ver­füge nur über rund 300 […] Fol­low­er […]. […] Im Übri­gen wäre es angesichts der vorste­hen­den Aus­führun­gen zur Ver­bre­itungs­kette bei Twit­ter nicht geeignet zur Unter­mauerung des sin­ngemässen Vor­brin­gens, er sei mit seinem Tweet gar nicht an die Öffentlichkeit gelangt.

In der Folge berichteten zahlre­iche Medi­en über M.. Damit wurde dieser, so das BGer, zu ein­er rel­a­tiv­en Per­son der Zeit­geschichte. Er hat­te anschliessend sog­ar selb­st die Öffentlichkeit gesucht. Die Berichter­stat­tung unter Nen­nung des Namens von M. war deshalb zuläs­sig, soweit sie inhaltlich nicht unwahr ist und keine unnötig her­ab­würdi­gen­den Wer­turteile abgegeben werden.

Das BGer beurteilt die Berichter­stat­tung durch Hans Stutz in der Folge als nicht ver­let­zend. Der Durch­schnittsleser könne den Tweet nicht anders inter­pretieren denn als Frage, ob nicht staatlich organ­isiert die Moscheen angezün­det wer­den soll­ten als Fanal zur sys­tem­a­tis­chen Ver­fol­gung und Vertrei­bung der Mus­lime. Die Berichter­stat­tung durch Stutz war deshalb nicht her­ab­set­zend, was das BGer wie fol­gt zusammenfasst:

Dass der Beschw­erde­führer beim Durch­schnittsleser tat­säch­lich in einem schlecht­en Licht erscheint, ist vielmehr und allein auf seine im Tweet ver­mit­telte Botschaft zurück­zuführen, mit welch­er er selb­st sich in den Augen des Lesers her­abge­set­zt hat. 

 Es war auch nicht unzuläs­sig, die Berichte zu M. unter der Rubrik “Recht­sex­trem­is­mus” zu veröffentlichen:

[…] Aus­gangssi­t­u­a­tion ist […], dass der Beschw­erde­führer bewusst Bezug auf die Kristall­nacht genom­men hat, welche der Nazi-Ide­olo­gie entsprun­gen ist, die gemein­hin als “recht­sex­trem” ein­ge­ord­net wird. Indem er sodann die rhetorische Frage stellte, ob es ein solch­es Ereig­nis nun­mehr für Moscheen brauche, lässt sich eine Gesin­nung erken­nen, die dur­chaus auch als recht­sex­trem eingestuft wer­den kann, ohne dass damit die Per­sön­lichkeit des Beschw­erde­führers wider­rechtlich ver­let­zt wird […]. Es spricht im Übri­gen für sich, dass der Beschw­erde­führer in sein­er par­al­le­len Beschw­erde 5A_975/2015 die bei­den Aus­sagen in der Berichter­stat­tung durch “Schweiz am Son­ntag”, es reiche nicht aus, Recht­sex­treme aus der Partei zu wer­fen, sobald ihre Ent­gleisun­gen ans Licht kämen, und die SVP mache sich auf­grund ihrer jahre­lan­gen Het­ze gegen Aus­län­der attrak­tiv für beken­nende Ras­sis­ten, nicht bean­standet hat. […]

Auch der Aus­druck “islam­o­phob” war nicht verletzend:

Keine wider­rechtliche Per­sön­lichkeitsver­let­zung ist schliesslich erkennbar im Zusam­men­hang mit der Beze­ich­nung des Beschw­erde­führers als “Islam­o­phoben”. Dies knüpft unmit­tel­bar an die rhetorische Frage, welche im Tweet gestellt wurde und unzwei­deutig auf eine Abnei­gung gegen den Islam schliessen lässt. Eine ehren­rührige Her­ab­set­zung des Beschw­erde­führers ist darin nicht zu erkennen.

Zum Urteil 5A_975/2016, Beschwerde gegen AZ Zeitungen

Gegen AZ Medi­en hat­te M. auf­grund eines Berichts auf www.schweizamsonntag.ch am 30. Juni 2012 geklagt, u.a. wegen der Aus­sage, “Wed­er […] noch Alexan­der M. haben in ein­er Partei etwas
ver­loren, die sich zum Grund­satz der Frei­heit und Demokratie beken­nt”
. Das BGer geht wiederum von sein­er Recht­sprechung zur per­sön­lichkeitsver­let­zen­den Medi­en­berichter­stat­tung aus und hält fest, es habe ein öffentlich­es Inter­esse an Bericht­en über M.s Tweet bestanden, weil dieser eine Rei­he poli­tisch aktueller The­men betr­e­ffe und weil M. damals poli­tis­che Ämter wahrgenom­men hat­te. Zuläs­sig war fern­er auch die iden­ti­fizierende Berichter­stat­tung, weil der M. selb­st laufend für weit­ere Öffentlichkeit gesorgt hatte.

Sodann war die Berichter­stat­tung der Schweiz am Son­ntag nicht ver­let­zend:

Nach all­ge­mein­er Auf­fas­sung bedarf eine frei­heitlich demokratis­che Gesellschaft aber nicht der Fragestel­lung, ob eine Kristall­nacht für Moscheen ange­bracht wäre, denn Kern­botschaft des Tweets ist, dass uner­wün­scht­es Ver­hal­ten einzel­ner mit Sip­pen­haft aller Ange­höriger ein­er bes­timmten Reli­gion im Sinn ein­er sys­tem­a­tis­chen Ver­fol­gung und Vertrei­bung zu ahn­den sei. Wer solch­es Gedankengut veröf­fentlicht, dis­qual­i­fiziert sich selb­st beim Durch­schnittsleser in ein­er Weise, dass ein Presseerzeug­nis ohne Ver­let­zung der Per­sön­lichkeit das Wer­turteil abgeben darf, die betr­e­f­fende Per­son habe in ein­er der Frei­heit und Demokratie verpflichteten Partei nichts zu suchen.