6B_986/2016: Notorische Tatsachen im Strafprozess (amtl. Publ.; frz.)

Im vor­liegen­den, zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Entscheid vom 20. Sep­tem­ber 2017 beschäftigte sich das BGer mit dem Begriff der notorischen Tat­sachen. Der Beschw­erde­führer wurde wegen Rassendiskri­m­inierung gemäss Art. 261bis Abs. 1 StGB verurteilt, nach­dem dieser auf sein­er Face­book­seite fol­gende Mit­teilun­gen aufgeschal­tet hat­te: “J’or­gan­ise une kristall­nacht. Qui est par­tant pour aller bruler du muzz?sowie darauf­fol­gend “J’ai mon P226 qui doit bien­tôt arriv­er + le cal­i­bre 12.” Das kan­tonale Beru­fungs­gericht wies die gegen dieses Urteil erhobene Beru­fung des Beschw­erde­führers ab und hielt fest, dass sich der Aufruf des Beschw­erde­führers auf sein­er Face­book­seite auf die mus­lim­is­che Reli­gion­s­gruppe bezog und entsprechend einen Aufruf zu Hass oder Diskri­m­inierung ein­er religiösen Gruppe im Sinne von Art. 261bis Abs. 1 StGB darstelle.

Vor dem BGer stellte sich der Beschw­erde­führer auf den Stand­punkt, dass er sich mit dem Begriff “muzz” nicht auf Mus­lime in ihrer Gesamtheit bezo­gen habe, son­dern lediglich auf die fanatis­chen Urhe­ber von gewalt­samen Ter­ro­rak­ten. Das kan­tonale Beru­fungs­gericht habe bei sein­er Def­i­n­i­tion des Begriffes “muzz” aber alleine auf eine Def­i­n­i­tion aus dem Inter­net abgestellt und habe, ohne seine Stel­lung­nahme zu diesem Begriff einzu­holen, eine Rassendiskri­m­inierung im Sinne von Art. 261bis Abs.1 StGB angenommen.

Das BGer prüfte, ob es sich beim Begriff “muzz” um eine all­ge­meine notorische Tat­sache han­delt, über welche kein Beweis geführt und dem Beschw­erde­führer dem­nach kein Anspruch zur Stel­lung­nahme gewährt wer­den muss (s. Art. 107 sowie Art. 139 Abs. 2 StPO). Das BGer erin­nerte daran, dass eine Tat­sache dann als notorisch gelte, wenn deren Bedeu­tung mit­tels eines Pub­lika­tion­sor­gans über­prüft wer­den könne, welch­es für jed­er­mann zugänglich sei (mit Ver­weis auf BGE 135 III 88, E. 4.1 sowie BGE 134 III 224, E. 5.2). Nicht jede im Inter­net abruf­bare Infor­ma­tion könne indessen als notorisch ange­se­hen wer­den (mit Ver­weis auf BGE 138 I 1, E. 2.4). Das BGer hielt in Bezug auf die im Inter­net abruf­baren Infor­ma­tio­nen entsprechend fest, dass nur solche Infor­ma­tio­nen als notorisch gel­ten kön­nen, welche von ein­er offiziellen Seite zur Ver­fü­gung gestellt wer­den (z.B. Bun­de­samt für Sta­tis­tik, Han­del­sreg­is­ter­amt, SBB Fahrplan).

Im vor­liegen­den Fall hat­te das kan­tonale Beru­fungs­gericht für die Def­i­n­i­tion des Begriffs “muzz” auf den Inter­net-Dik­tionär Wik­tion­naire (https://fr.wiktionary.org/) abgestellt. Das BGer führte jedoch aus, dass Wik­tion­naire nicht als ein anerkan­nter Dik­tionär qual­i­fiziere und dessen Beiträge von beliebi­gen Nutzern aus dem Inter­net stam­men, welche auch bere­its beste­hende Beiträge jed­erzeit abän­dern und anpassen kön­nen. Die Def­i­n­i­tion des Begriffs “muzz” gemäss Wik­tion­naire, welche vom kan­tonalen Beru­fungs­gericht zur Begrün­dung seines Urteils ver­wen­det wurde, könne somit nicht als notorisch gel­ten. Entsprechend hätte das Gericht den Beschw­erde­führer zur Bedeu­tung des Begriffs “muzz” anhören müssen. Indem das kan­tonale Beru­fungs­gericht aber keine Stel­lung­nahme einge­holt habe, sei der Anspruch des Beschw­erde­führers auf rechtlich­es Gehör ver­let­zt worden.

Das BGer erin­nerte daran, dass für die strafrechtliche Beurteilung ein­er Äusserung in Bezug auf Art. 261bis StGB grund­sät­zlich der Sinn mass­gebend sei, welch­er ihr der unbe­fan­gene durch­schnit­tliche Dritte unter den gesamten konkreten Umstän­den bei­lege (mit Ver­weis auf BGE 140 IV 67, E.2.1.2). Das kan­tonale Beru­fungs­gericht habe aber alleine auf­grund der auf Wik­tion­naire abruf­baren Def­i­n­i­tion geschlossen, dass sich der Begriff “muzz” auf Mus­lime in ihrer Gesamtheit bezog. Das Beru­fungs­gericht habe dabei ignori­ert, dass der Begriff, wie vom Beschw­erde­führer ange­führt, sich allen­falls auf islamistis­che Ter­ror­is­ten beziehe, welche nicht durch Art. 261bis Abs. 1 StGB geschützt seien. Der alleinige Bezug auf die Kristall­nacht, ohne dass die Bedeu­tung des Begriffs “muzz” gek­lärt sei, genüge jedoch nicht um anzunehmen, dass sich der Face­bookein­trag des Beschw­erde­führers auf eine gemäss Art. 261bis Abs. 1 StGB geschützte Grup­pierung bezog.

In der Folge hob das BGer den Entscheid auf und wies ihn zur Neubeurteilung an die Vorin­stanz zurück.