Das Bundesgericht bestätigte in diesem Entscheid eine gegen einen Anwalt ausgesprochene Verwarnung wegen Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA. Hintergrund war folgender Sachverhalt: Ein Bruder und seine drei Schwester erbten Aktien verschiedener Gesellschaften. Nachdem die Schwestern ein Rückkaufangebot erhielten und dieses annehmen wollten, baten sie ihren Bruder um Zustimmung. Daraufhin kam es zu einem gemeinsamen Gespräch zwischen den Geschwistern, bei welchem die drei Schwestern durch drei Steueranwälte begleitet und vertreten wurden. Der Bruder zeichnete das gesamte Gespräch auf, offenbar ohne Zustimmung der anderen Gesprächsteilnehmer.
Nach diesem Gespräch mandatierte der Bruder einen Anwalt. Dieser reichte beim Tribunal civil de première instance des Kantons Genf ein Begehren um provisorische und superprovisorische Massnahmen ein, mit welchem er den Schwestern die Übertragung der Aktien verbieten wollte. Um das Begehren seines Klienten glaubhaft zu machen, reichte der Anwalt die Aufzeichnung des Gesprächs als Beweismittel ein.
Die Commission du barreau (Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte) des Kantons Genf verwarnte den Anwalt mit der Begründung, dieser hätte dem Gericht vorsätzlich eine Aufzeichnung von vertraulichen Vergleichsgesprächen eingereicht. Damit habe er in schwerwiegender Weise gegen seine Pflicht zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung i.S.v. Art. 12 lit. a BGFA verstossen. Die Chambre administrative de la Cour de justice wies die Beschwerde des Anwalts ab. Die Richter bestätigten, dass durch die Einreichung einer Aufzeichnung vertraulicher Vergleichsgespräche ein Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA vorliege. Sodann liege ein Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA vor, da die anlässlich des Treffens ausgetauschten Vergleichsangebote vom Berufsgeheimnis der am Gespräch teilnehmenden Anwälte erfasst würden. Schliesslich habe der Anwalt seine Pflichten gemäss Art. 398 Abs. 2 OR verletzt, indem er seinen Klienten einer möglichen Strafverfolgung gestützt auf Art. 179ter StGB ausgesetzt hätte, nachdem offensichtlich gewesen sei, dass das Zivilgericht die Aufzeichnung nicht als Beweismittel zulassen würde.
Vom Bundesgericht zu beurteilen war zunächst, ob das fragliche Gespräch als vertrauliche Vergleichsverhandlung im Sinne der Rechtsprechung zu qualifizieren ist. Der Anwalt wehrte sich gegen diese Qualifikation und machte geltend, bei der an das tribunal civile übermittelten Aufzeichnung handle es sich weder um Vergleichsverhandlungen i.S.v. Art. 6 der Schweizerischen Standesregeln (SSR) noch um vertrauliche Korrespondenz i.S.v. Art. 26 SSR (E. 4).
Das Bundesgericht fasste zunächst seine Rechtsprechung zu Art. 12 BGFA im Allgemeinen und dessen lit. a im Besonderen zusammen. Dabei rief es insbesondere in Erinnerung, dass die Berufsregeln des Anwalts abschliessend im BGFA geregelt seien. Die Standesregeln würden indessen eine rechtliche Bedeutung behalten, da sie eine Präzisierung oder Auslegung der Berufsregeln ermöglichen würden, aber ausschliesslich insoweit, als die Standesregeln eine landesweit in nahezu allen Kantonen geltende Auffassung zum Ausdruck bringen. Dies gelte insbesondere für Art. 6 und 26 SSR, welche die Tragweite der Pflicht des Anwalts zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung i.S.v. Art. 12 lit. a BGFA präzisieren (E. 4.1–4.5).
Anschliessend erwog das Bundesgericht, dass Vergleichsgespräche zwischen Anwälten vertraulich seien, ohne dass dies ausdrücklich festgehalten werden müsse. Die Anwälte seien gestützt auf Art. 6 und 26 SSR ohne Weiteres zur Vertraulichkeit verpflichtet, und zwar sowohl bezüglich der Tatsache, dass Vergleichsgespräche stattfinden, als auch bezüglich des Inhalts dieser Gespräche. Dasselbe gelte für Vergleichsgespräche zwischen den Parteien, welche in Anwesenheit ihrer Anwälte stattfänden (E. 4.6.1). Demgegenüber seien Vergleichsgespräche zwischen einem Anwalt und einer nicht vertretenen Partei vertraulich, sofern die Parteien ausdrücklich die Vertraulichkeit vereinbart hätten. Diese Vertraulichkeitspflicht des Anwalts basiere auf dem BGFA, habe demnach einen öffentlich-rechtlichen Charakter, und sei deshalb abzugrenzen vom privatrechtlichen Charakter der Vertraulichkeitsvereinbarung (E. 4.6.2). Ein Anwalt, der erst nach den Vergleichsgesprächen die Interessenwahrung seines damals nicht-vertretenen Klienten übernehme, sei an eine Vertraulichkeitsvereinbarung nur unter der Voraussetzung gebunden, dass er von der Vertraulichkeit gewusst habe. Art. 6 und 26 SSR würden somit nur die vorsätzliche Verletzung einer Vertraulichkeitsvereinbarung durch den Anwalt erfassen, dies indessen unabhängig davon, ob die schriftlich oder mündlichen formulierten, als vertraulich bezeichneten Vergleichsvorschläge des Gegenanwalts direkt an den Anwalt gerichtet worden seien oder nicht. Demgegenüber verstosse ein Anwalt nicht gegen Art. 12 lit. a BGFA , wenn keine Vertraulichkeitsvereinbarung vorliege. In einem solchen Fall würden keine Vergleichsgespräche zwischen Anwälten vorliegen (E. 4.6.3):
En effet, les art. 6 et 26 CSD ont pour vocation à s’appliquer à tout avocat qui entend sciemment se prévaloir en justice de propos (écrits ou oraux) de nature transactionnelle et confidentielle formulés par un confrère, indépendamment de la question de savoir si ceux-ci lui ont été adressés directement ou pas. (…) En revanche, si aucune clause de confidentialité n’a été prévue pour protéger les pourparlers transactionnels entre l’avocat d’une partie et la partie adverse non représentée, il faut admettre que l’avocat consulté par la suite par celle-ci peut se prévaloir en justice du contenu des échanges en question, sans que cela constitue une violation de son devoir de diligence (art. 12 let. a LLCA).
Da aus dem angefochtenen Entscheid des Cour de civile nicht hervorging, dass der Bruder mit seinen Geschwistern und deren Steueranwälten eine Vertraulichkeit vereinbart hatte, verneinte das Bundesgericht eine Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA i.V.m. Art. 6 und 26 SSR durch den Anwalt (E. 4.7–4.8).
Das Bundesgericht prüfte sodann, ob der Anwalt gegen Art. 12 lit. a BGFA verstiess, indem er die Aufzeichung des Gesprächs beim tribunal civile einreichte. Dass die Aufzeichnung widerrechtlich war, wurde vom Anwalt nicht bestritten. Er machte vielmehr geltend, er hätte die Aufzeichnung im Interesse seines Klienten eingereicht und dabei den Nichtzulassungsentscheid des tribunal civile nicht präjudizieren müssen (E. 5).
Diese Argumentation verfing nicht. Das Bundesgericht wies darauf hin, dass Art. 12 lit. a BGFA den Anwalt dazu verpflichte, die Interessen seines Klienten ausschliesslich mit rechtlich zulässigen Mitteln zu vertreten. Die wissentliche Verwendung von widerrechtlichen Mitteln stelle daher einen Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA dar. Eine Lockerung dieser Regel sei einzig in Situationen denkbar, in denen von einem überwiegenden Interesse an der Wahrheitsfindung ausgegangen werden könne. Eine solche Ausnahme liege indessen vorliegend nicht vor, da es sich um eine vermögensrechtliche Angelegenheit handle, bei welcher die Verhandlungsmaxime anwendbar sei und wo das Interesse an der materiellen Wahrheitsfindung das öffentliche Interesse an der strikten Einhaltung der Vertraulichkeitsregel nicht zu überwiegen vermöge. Dabei ändere, so das Bundesgericht weiter, die Einwilligung seines Klienten nichts an der Pflicht des Anwalts zur sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung (E. 5.1).
Sodann erkannte das Bundesgericht eine zusätzliche Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA darin, dass der Anwalt durch die Einreichung der Aufzeichnung beim tribunal civile der Gegenpartei Kenntnis davon gegeben hätte. Damit hätte er seinen Klienten dem Risiko einer Strafverfolgung wegen Verstoss gegen Art. 179ter StGB ausgesetzt. Ein solches Vorgehen verstosse klar gegen die Interessen des Klienten und die gestützt auf Art. 12 lit. a BGFA geforderte Sorgfaltspflicht des Anwalts, unabhängig davon, ob tatsächlich eine Strafanzeige eingereicht worden sei oder werde. Darüber hinaus habe sich der Anwalt selber der Gefahr ausgesetzt, wegen Verstoss gegen Art. 179ter Abs. 2 StGB strafrechtlich verfolgt zu werden. Da aus dem angefochtenen Entscheid nicht hervorgehe, dass der Anwalt tatsächlich auf dieser Basis verurteilt worden sei, stelle sich die Frage einer erneuten Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA indessen nicht (E. 5.2).
Schliesslich prüfte das Bundesgericht, ob der Anwalt seine aus Art. 398 Abs. 2 OR resultierende Pflicht zur getreuen und sorgfältigen Geschäftsausführung verletzte (E. 5.3). Dabei erinnerte das Bundesgericht daran, dass ein Verstoss gegen die in Art. 398 Abs. 2 OR statuierte zivilrechtliche Pflicht nicht mit einem Verstoss gegen Art. 12 lit. a BGFA gleichzusetzen sei (E. 5.3.1). Da vorliegend aufgrund der übrigen Erwägungen eine Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA zu bejahen sei, könne die Frage, ob der Anwalt mit seinem Verhalten ebenfalls gegen Art. 398 Abs. 2 OR verstossen hätte, offen bleiben.
Gestützt auf diese Erwägungen kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Verwarnung des Anwalts, die mildest mögliche Disziplarmassnahme, rechtmässig und insbesondere verhältnismässig sei (E. 6).