1C_495/2017: Majorzsystem für die Wahl der Bündner Legislative / Verletzung der Stimmgewichts- und Erfolgswertgleichheit (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil vom 29. Juli 2019 hat­te sich das BGer mit der Frage der Ver­fas­sungskon­for­mität des Bünd­ner Mehrheitswahlsys­tems (Majorzsys­tem) auseinan­derzuset­zen. Im Sep­tem­ber 2017 legte die Regierung des Kan­tons Graubün­den im Hin­blick auf die Gross­ratswahlen im Jahr 2018 die Zahl der in jedem Wahlkreis für die Leg­is­laturpe­ri­ode 2018–2022 zu wäh­len­den Abge­ord­neten fest. Den Beschluss der Regierung focht­en 54 Pri­vat­per­so­n­en und fünf im Kan­ton Graubün­den tätige poli­tis­che Parteien beim BGer an, welch­es die Beschw­erde teil­weise gutheisst.

Vor­ab prüft das BGer, ob es Art. 27 der Ver­fas­sung des Kan­tons Graubün­den (KV GR; BR 110.100), welch­er sich zur Zusam­menset­zung und zur Wahl des Grossen Rats äussert, auf seinen Ein­klang mit der aus Art. 8 BV und Art. 34 BV fliessenden Wahlrechts­gle­ich­heit unter­suchen kann. Es ruft dabei in Erin­nerung, dass das BGer in Anbe­tra­cht der Gewährleis­tung von Kan­tonsver­fas­sun­gen durch die Bun­desver­samm­lung nicht nur von ein­er abstrak­ten Nor­menkon­trolle, son­dern grund­sät­zlich auch von ein­er inzi­den­ten Kon­trolle abse­he. Eine Über­prü­fung finde im Anwen­dungs­fall indessen statt, wenn das über­ge­ord­nete Recht im Zeit­punkt der Gewährleis­tung noch nicht in Kraft war oder sich sei­ther in ein­er Weise weit­er­en­twick­elt hat, der es Rech­nung zu tra­gen gilt. Das BGer hält es im vor­liegen­den Fall für geboten, Art. 27 KV GR auf seine Übere­in­stim­mung mit Art. 34 i.V.m. Art. 8 BV hin zu über­prüfen. Dies unter anderem deshalb, weil es sich bei der aus Art. 34 BV fliessenden Wahlrechts­gle­ich­heit um ein über­ge­ord­netes Ver­fas­sung­sprinzip han­dle, welch­es in den let­zten Jahren durch die Recht­sprechung weit­er­en­twick­elt wor­den sei.

Das BGer hält fest, dass das im Kan­ton Graubün­den ange­wandte Ver­fahren für die Wahl des Grossen Rats den Anforderun­gen von Art. 34 Abs. 2 BV in zweier­lei Hin­sicht nicht genüge. Zum einen bean­standet das BGer die in Art. 2 Abs. 1 lit. a des Gross­rats­ge­set­zes (GRG; BR 170.100) normierte Sitz­garantie für jeden Wahlkreis. Im Durch­schnitt wür­den im Kan­ton Graubün­den 1’342 Per­so­n­en von einem Gross­rat repräsen­tiert. Im kle­in­sten Wahlkreis Avers betrage die Repräsen­ta­tion­sz­if­fer indessen 160. Diese Dif­ferenz sei mit der aus Art. 34 Abs. 2 BV fliessenden Stimmkraft- bzw. Stim­mgewichts­gle­ich­heit nicht mehr zu vere­in­baren. Zum anderen rügt das BGer, dass das Prinzip der Erfol­gswert­gle­ich­heit (alle Stim­men müssen materiell und in gle­ich­er Weise zum Wahlergeb­nis beitra­gen und bei der Man­datsverteilung berück­sichtigt wer­den) im reinen Majorzwahlver­fahren nicht ver­wirk­licht wer­den könne und sich die Ver­let­zung in den sechs Wahlkreisen Chur, Fünf Dör­fer, Oberen­gadin, Rhäzüns, Davos und Ilanz auch nicht sach­lich recht­fer­ti­gen lasse:

Auf die sechs genan­nten Wahlkreise mit ein­er schweiz­erischen Wohn­bevölkerung von 7’991–27’955 Per­so­n­en bzw. mit 6–20 zu vergeben­den Sitzen trifft die Beschrei­bung als bevölkerungsarme, in sich abgeschlossene Talschaften mit aus­geprägten eige­nen Iden­titäten offenkundig nicht zu. In Wahlkreisen von dieser Grössenord­nung kann in Kom­bi­na­tion mit der entsprechend grossen Zahl von Kan­di­datin­nen und Kan­di­dat­en ein­deutig nicht mehr davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass die kan­di­dieren­den Per­so­n­en ein­er Mehrzahl der Wäh­lerin­nen und Wäh­lern per­sön­lich bekan­nt sind. Vielmehr muss angenom­men wer­den, dass sich die Wahlberechtigten in diesen Wahlkreisen stark an der Zuge­hörigkeit der Kan­di­datin­nen und Kan­di­dat­en zu ein­er poli­tis­chen Grup­pierung ori­en­tieren, während das per­sön­liche Ele­ment bei der Wahl zwangsläu­fig in den Hin­ter­grund tritt. (E. 8.5.2.)

Das BGer stellt abschliessend fest, dass das Ver­fahren für die Wahl des Bünd­ner Grossen Rats vor der Bun­desver­fas­sung nicht stand­halte. Es fordert die zuständi­gen Behör­den im Kan­ton Graubün­den im Sinne eines Appel­lentschei­ds auf, im Hin­blick auf die näch­ste Wahl des Grossen Rats eine ver­fas­sungskon­forme Wahlord­nung zu schaffen.