1C_181/2019: Totalrevision des Polizeigesetzes des Kantons Bern / abstrakte Normenkontrolle (amtl. Publ.)

Im zur öffentlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Entscheid vom 29. April 2020 beurteilte das BGer eine Beschw­erde der Demokratis­chen Juristin­nen und Juris­ten sowie weit­eren 18 Parteien gegen das Polizeige­setz des Kan­tons Bern (PolG; BSG 551.1). Im Rah­men der Total­re­vi­sion im Jahr 2018 wur­den unter anderem fol­gende Bes­tim­mungen in das Gesetz aufgenommen:

Art. 83 Abs. 1 lit. h
Die Kan­ton­spolizei kann eine oder mehrere Per­so­n­en von einem Ort vorüberge­hend weg­weisen oder fern­hal­ten, wenn auf einem pri­vat­en Grund­stück oder auf einem Grund­stück eines Gemein­we­sens ohne Erlaub­nis des Eigen­tümers oder des Besitzers campiert wird.

Art. 84 Abs. 1
Die Mass­nah­men gemäss Art. 83 Absatz 1 erge­hen unter der Straf­dro­hung gemäss Artikel 292 StGB.

Art. 84 Abs. 4
Weg­weisun­gen gemäss Artikel 83 Absatz 1 Buch­stabe h wer­den schriftlich vor Ort ver­fügt. Wer­den die Weg­weisun­gen von den Betrof­fe­nen nicht inner­halb von 24 Stun­den befol­gt, kann die Kan­ton­spolizei das Gelände räu­men, sofern ein Tran­sit­platz zur Ver­fü­gung steht.

Art. 118 Abs. 2
Sie [die Kan­ton­spolizei] kann zu diesem Zweck [Obser­va­tion] tech­nis­che Überwachungs­geräte ein­set­zen, um den Stan­dort von Per­so­n­en oder Sachen festzustellen.

Das BGer hebt die erwäh­n­ten Bes­tim­mungen auf. Zu Art. 84 Abs. 1 hält es fest, dass die Norm keine Kann-For­mulierung enthalte und die Kan­ton­spolizei deshalb keine Möglichkeit habe, die Weg­weisung oder Fern­hal­tung je nach Umstän­den und Schw­ere­grad des konkreten Falls mit oder ohne Straf­dro­hung zu erlassen (Erforder­lichkeit). Zudem erscheine die automa­tis­che Anord­nung ein­er Straf­dro­hung nach Art. 292 StGB, die eine Busse von bis zu CHF 10’000.00 nach sich ziehen kann, als nicht zumut­bar (Ver­hält­nis­mäs­sigkeit im engeren Sinne).

In Bezug auf Art. 83 Abs. 1 lit. h und Art. 84 Abs. 4 stellt das BGer vor­ab fest, dass davon aus­ge­gan­gen wer­den könne, dass der Grosse Rat des Kan­tons Bern die Bes­tim­mungen zur Weg­weisung von «ille­gal Campieren­den» auss­chliesslich auf die Fahren­den anwen­den wollte. Deren Weg­weisung von einem Hal­teplatz bzw. die Räu­mung eines solchen stelle einen Ein­griff in deren Recht auf Achtung ihres Pri­vat- oder Fam­i­lien­lebens dar (Art. 13 BV und Art. 8 EMRK; Ver­weis auf das Urteil “Win­ter­stein” des EGMR). Das BGer verneint die Ver­hält­nis­mäs­sigkeit der Weg­weisung bzw. Räu­mung innert 24 Stun­den oder weniger Tage sowohl für Schweiz­er Fahrende und aus­ländis­che Fahrende, welche länger an einem Ort ver­weilen, als auch für aus­ländis­che Fahrende auf der Durchreise.

Zur Obser­va­tion mit­tels GPS sagt das BGer folgendes:

Im Gegen­satz zur GPS-Überwachung nach StPO han­delt es sich bei jen­er nach PolG/BE um eine präven­tive Überwachungs­mass­nahme; sie wird zur Erken­nung und Ver­hin­derung von Ver­brechen oder Verge­hen einge­set­zt. Es beste­ht also kein konkreter, geschweige denn ein drin­gen­der Ver­dacht, dass Ver­brechen oder Verge­hen vor der Aus­führung ste­hen. (E. 17.5.2)

Trotz dieser Gefahr – so das BGer – kön­nte ein Polizist die Mass­nahme ohne vorgängige richter­liche Genehmi­gung anord­nen und bis zu einem Monat weit­er­führen, ohne dass während dieser Zeit die Möglichkeit bestünde, die recht­mäs­sige Anwen­dung der Mass­nahme zu über­prüfen. Zudem kön­nte die Kan­ton­spolizei die nachträgliche Mit­teilung an die beobachtete Per­son auch ohne richter­liche Zus­tim­mung auf­schieben oder gar unterlassen.

Das BGer hebt die erwäh­n­ten Bes­tim­mungen auf, bean­standet im Übri­gen aber die weit­eren als unrecht­mäs­sig gerügten Nor­men nicht.