In einem Entscheid vom 26. Mai 2020 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage u.a. auseinander, ob die relevanten Versicherungspolicen in Abweichung von Art. 38 Abs. 2 VVG eine Verwirkungsfolge bei verspäteter Anzeige vorsehen und ob das Erfordernis eines Kausalzusammenhanges zwischen verspäteter Anzeige und Höhe der Versicherungsleistung wegbedungen wurde (Art. 38 Abs. 2 VVG). Das Bundesgericht verneinte vorliegend beide Fragen, hiess die Beschwerde teilweise gut und wies die Sache an die Vorinstanz zurück.
Sachverhalt
Dem Entscheid lag (zusammengefasst) folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Versicherungsnehmerin ist die Muttergesellschaft der A Gruppe, zu welcher u.a. die A AG (mit Sitz in der Schweiz) sowie die A Inc. mit Sitz in den USA gehören. Diese erbringt über diverse Tochtergesellschaften in verschiedenen Ländern Finanzdienstleistungen.
Die Versicherungsnehmerin schloss für sich und weitere Unternehmen der Gruppe (welche in der Folge ihre Ansprüche auf Versicherungsleistungen an die Versicherungsnehmerin abtraten) über eine Brokerin mit dem Versicherer (einer Gesellschaft englischen Rechts) und zwei weiteren Versicherungen Versicherungsverträge betreffend die zivilrechtliche und organschaftliche Haftung ab. Die zwei hier relevanten Versicherungsverträge galten für die Versicherungsperioden vom 24. August 2008 bis zum 24. August 2009 (Police 2008) und vom 24. August 2009 bis zum 24. August 2010 (Police 2009).
Beide Versicherungspolicen sahen folgende Klausel vor:
-
MEANING OF THIRD PARTY CLAIMS MADE AND NOTICE PROVISIONS
This Policy applies only to third party claims first made against the Assured during the Policy Period.
For the purposes of this Policy, a third party claim is considered to be made when the Assured first:
( a ) receives a written demand for damages of the type covered by this Policy, including the service of suit or institution of legal or arbitration or regulatory proceedings; or
( b ) becomes aware of the intention of any person to make such demand against them; or
( c ) becomes aware of any fact, circumstance or event which could reasonably be anticipated to give rise to such a demand at any future time.
Written notice of any such third party claims made shall be given by the Assured at the earliest practical moment, but in any event within 60 days of the expiration of the Policy Period, or Extended Reporting Period (if applicable).
Any subsequent legal proceedings for damages brought against the Assured, or any settlement made by Underwriters, as a direct result of any matter or matters for which written notice has been given under ( b ) or ( c ) above, whether such proceedings are brought, or such settlement made, during or after the expiration of the Policy Period, is considered to be a third party claim first made against the Assured at the time the Assured first became aware of the said matter or matters.
Infolge einer Transaktion in den USA, die am 15. Juli 2009 abgeschlossen wurde, machten Drittkläger Ansprüche gegen Gesellschaften der A Gruppe und weitere Parteien geltend und reichten am 15. Juni 2009 und am 11. Mai 2010 zwei Klagen in den USA ein. Dabei hatte der Rechtsvertreter der Drittkläger mit Schreiben vom 7. Mai 2009 der A Inc. bereits mitgeteilt, dass seine Mandanten bei einem Abschluss der in Frage stehende Transaktion Forderungen geltend machen würden. Anlässlich bzw. im Anschluss beider Verfahren schlossen einige Parteien, und darunter zwei Gesellschaften der A Gruppe, am 11. Februar 2013 bzw. am 13. März 2013 einen Vergleich in Millionenhöhe (ca. USD 3’900’000 und USD 9’000’000) mit den Drittklägern ab.
Mit Schreiben vom 29. Juli 2013 teilte der Versicherer der Versicherungsnehmerin mit, dass er gestützt auf Art. 6 VVG rückwirkend von der Police zurücktrete, da ihm die Umstände des Schreibens des US-Anwalts vor Police-Erneuerung nicht bekannt gewesen sei.
Am 1. Juni 2015 reichte die Versicherungsnehmerin beim Kantonsgericht Zug Klage gegen den Versicherer ein. Mit Urteil vom 21. Februar 2018 wies das Kantonsgericht Zug die Klage ab. Es verneinte eine Deckung sowohl unter der Police 2008 als auch unter der Police 2009. Zudem verneinte es einen unberechtigten Rücktritt vom Versicherungsvertrag (Police 2009).
Dagegen erhob die Versicherungsnehmerin Berufung beim Obergericht des Kantons Zug. Mit Entscheid vom 28. August 2019 wies das Obergericht die Berufung ab. Es erwog, der Haftungsfall, für den die Versicherungsnehmerin Schadensdeckung verlange, falle unter die Police 2008. Die Anzeige der mitzuteilenden Umstände sei nicht innert Frist in schriftlicher Form bei der Beklagten eingegangen. Da die verspätete Anzeige nicht unverschuldet sei, seien die Versicherungsansprüche der Versicherungsnehmerin verwirkt.
Daraufhin erhob die Versicherungsnehmerin Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der Versicherungsnehmerin teilweise gut und wies die Sache zur Vorinstanz zurück.
Vereinbarung einer Verwirkungsfolge bei verspäteter Anzeige
Vor Bundesgericht blieb offenbar unangefochten, dass die Schadensfälle unter die Police 2008 fallen. Auch nicht bestritten war, dass die Anzeige der relevanten Umstände verspätet erfolgte.
Die Versicherungsnehmerin machte vor Bundesgericht jedoch u.a. geltend, dass Ziff. 6 der Police 2008 keine Verwirkungsfolge vorsehe, falls die in Ziff. 6 Abs. 3 der Police 2008 vorgesehene Anzeigefrist nicht eingehalten werde (E. 5.3).
Das Bundesgericht legte Ziff. 6 der Police 2008 aus, und stellte dabei fest, dass die Bestimmung nicht explizit vorsieht, dass im Fall einer verspäteten Anzeige die Verwirkungsfolge eintritt und prüfte damit, ob die Klausel nach Treu und Glauben dennoch als Verwirkungsklausel zu verstehen ist (E. 5.3.5).
Das Bundesgericht führte aus, dass die Vereinbarung einer Verwirkungsfolge mit dem Claims-made-Prinzip zwar in Einklang steht. Dies bedeutet aber nicht, dass bei einer dem Claims-made-Prinzip unterstehenden Police im Falle der Verletzung der Anzeigepflicht ohne Weiteres von einer Verwirkung der Ansprüche unter dieser Police auszugehen wäre, da bei einer solchen Police eine Kürzung nach Art. 38 Abs. 2 VVG per se nicht ausgeschlossen ist (E. 5.3.5.2, m.w.H.). Vorliegend geht es aber gemäss Bundesgericht um die Frage, was die Rechtsfolgen einer verspäteten Meldung gemäss Ziff. 6 Abs. 3 unter der Police 2008 sind. Allein aus der Natur des Claims-made-Prinzips lässt sich aber vorliegend nicht ableiten, dass Ziff. 6 Abs. 3 – wo eine Verwirkungsfolge mit keinem Wort erwähnt wird – nach Treu und Glauben so zu verstehen wäre, dass im Fall einer verspäteten Anzeige die Ansprüche unter der Police 2008 – in Abweichung von Art. 38 Abs. 2 VVG – verwirkt wären (E. 5.3.5.2, m.w.H.). Eine Abweichung von der dispositiven Regel von Art. 38 Abs. 2 VVG – zumal dergestalt, dass eine Verwirkungsfolge vorgesehen wird – ist somit mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck zu bringen, was vorliegend nicht der Fall ist (E. 5.3.5.3).
Das Bundesgericht kam damit zum Schluss, dass die Auslegung der Vorinstanz, wonach die Parteien in der Police 2008 eine Verwirkungsfolge vereinbart haben, verletzt somit Bundesrecht (E. 5.3.6).
Wegbedingung des Erfordernisses eines Kausalzusammenhangs zwischen verspäteter Anzeige und Höhe der Versicherungsleistung
Das Bundesgericht setzte sich in der Folge mit der Frage auseinander, ob das Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen verspäteter Anzeige und Höhe der Versicherungsleistung (Art. 38 Abs. 2 VVG) wegbedungen wurde, wie von der Vorinstanz angenommen. Das Bundesgericht erwog, dass es sich aus der Police 2008 nicht mit hinreichender Klarheit ergibt, dass die Parteien in Abweichung von Art. 38 Abs. 2 VVG vom Kausalitätserfordernis hätten abweichen wollen, und kam zum Schluss, dass die Annahme der Vorinstanz, die Parteien hätten das Kausalitätserfordernis wegbedungen, Bundesrecht verletzt (E. 5.9.2).
Im Übrigen liess das Bundesgericht die Frage offen, ob eine Verwirkungsklausel den Einwand mangelnder Kausalität (stillschweigend) ausschliesst, da vorliegend die Parteien ohnehin keine Verwirkungsklausel vereinbarten (E. 5.9.2, m.w.H.).
Beweislast für den Kausalitätsnachweis
Schliesslich hielt das Bundesgericht fest, dass dem Versicherer der Nachweis obliegt, dass der Anspruch bei rechtzeitiger Anzeige kleiner gewesen wäre (Kausalitätserfordernis gemäss Art. 38 Abs. 2 VVG). Gemäss Bundesgericht ergibt sich dies u.a. aus der Ähnlichkeit des Kürzungsrechts gemäss Art. 38 Abs. 2 VVG mit einem Schadenersatzanspruch (Analogie zu Art. 97 OR). Dies steht auch im Einklang damit, dass die Versicherung die Beweislast für Tatsachen trägt, die sie zu einer Kürzung oder Verweigerung der vertraglichen Leistung berechtigen. Der Nachweis, dass die Versicherungsleistung bei rechtzeitiger Schadensanzeige kleiner ausgefallen wäre, ist in diesem Zusammenhang eine rechtsbegründende Tatsache für das Kürzungsrecht des Versicherers gemäss Art. 38 Abs. 2 VVG. Dies im Gegensatz zur Konstellation, in der die Parteien vertraglich Rechtsnachteile (namentlich eine Verwirkungsfolge) vereinbart haben und der Versicherte rechtshindernd einwendet, die vertraglich vereinbarten Rechtsnachteile fänden keine Anwendung, weil sich seine Obliegenheitsverletzung nicht auf den Umfang der Versicherungsleistung ausgewirkt habe (E. 5.10.3.2, m.w.H.).