4A_490/2019: Vereinbarung einer Verwirkungsfolge bei verspäteter Anzeige; Wegbedingung des Erfordernisses des Kausalzusammenhanges; Beweislast für den Kausalitätsnachweis

In einem Entscheid vom 26. Mai 2020 set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage u.a. auseinan­der, ob die rel­e­van­ten Ver­sicherungspo­li­cen in Abwe­ichung von Art. 38 Abs. 2 VVG eine Ver­wirkungs­folge bei ver­späteter Anzeige vorse­hen und ob das Erforder­nis eines Kausalzusam­men­hanges zwis­chen ver­späteter Anzeige und Höhe der Ver­sicherungsleis­tung wegbedun­gen wurde (Art. 38 Abs. 2 VVG). Das Bun­des­gericht verneinte vor­liegend bei­de Fra­gen, hiess die Beschw­erde teil­weise gut und wies die Sache an die Vorin­stanz zurück.

Sachver­halt

Dem Entscheid lag (zusam­menge­fasst) fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Die Ver­sicherungsnehmerin ist die Mut­terge­sellschaft der A Gruppe, zu welch­er u.a. die A AG (mit Sitz in der Schweiz) sowie die A Inc. mit Sitz in den USA gehören. Diese erbringt über diverse Tochterge­sellschaften in ver­schiede­nen Län­dern Finanzdienstleistungen.

Die Ver­sicherungsnehmerin schloss für sich und weit­ere Unternehmen der Gruppe (welche in der Folge ihre Ansprüche auf Ver­sicherungsleis­tun­gen an die Ver­sicherungsnehmerin abtrat­en) über eine Bro­kerin mit dem Ver­sicher­er (ein­er Gesellschaft englis­chen Rechts) und zwei weit­eren Ver­sicherun­gen Ver­sicherungsverträge betr­e­f­fend die zivil­rechtliche und organ­schaftliche Haf­tung ab. Die zwei hier rel­e­van­ten Ver­sicherungsverträge gal­ten für die Ver­sicherungspe­ri­o­den vom 24. August 2008 bis zum 24. August 2009 (Police 2008) und vom 24. August 2009 bis zum 24. August 2010 (Police 2009).

Bei­de Ver­sicherungspo­li­cen sahen fol­gende Klausel vor:

  1. MEANING OF THIRD PARTY CLAIMS MADE AND NOTICE PROVISIONS 

This Pol­i­cy applies only to third par­ty claims first made against the Assured dur­ing the Pol­i­cy Period. 

For the pur­pos­es of this Pol­i­cy, a third par­ty claim is con­sid­ered to be made when the Assured first: 

( a ) receives a writ­ten demand for dam­ages of the type cov­ered by this Pol­i­cy, includ­ing the ser­vice of suit or insti­tu­tion of legal or arbi­tra­tion or reg­u­la­to­ry pro­ceed­ings; or 

( b ) becomes aware of the inten­tion of any per­son to make such demand against them; or 

( c ) becomes aware of any fact, cir­cum­stance or event which could rea­son­ably be antic­i­pat­ed to give rise to such a demand at any future time. 

Writ­ten notice of any such third par­ty claims made shall be giv­en by the Assured at the ear­li­est prac­ti­cal moment, but in any event with­in 60 days of the expi­ra­tion of the Pol­i­cy Peri­od, or Extend­ed Report­ing Peri­od (if applicable). 

Any sub­se­quent legal pro­ceed­ings for dam­ages brought against the Assured, or any set­tle­ment made by Under­writ­ers, as a direct result of any mat­ter or mat­ters for which writ­ten notice has been giv­en under ( b ) or ( c ) above, whether such pro­ceed­ings are brought, or such set­tle­ment made, dur­ing or after the expi­ra­tion of the Pol­i­cy Peri­od, is con­sid­ered to be a third par­ty claim first made against the Assured at the time the Assured first became aware of the said mat­ter or matters. 

Infolge ein­er Transak­tion in den USA, die am 15. Juli 2009 abgeschlossen wurde, macht­en Drit­tk­läger Ansprüche gegen Gesellschaften der A Gruppe und weit­ere Parteien gel­tend und reicht­en am 15. Juni 2009 und am 11. Mai 2010 zwei Kla­gen in den USA ein. Dabei hat­te der Rechtsvertreter der Drit­tk­läger mit Schreiben vom 7. Mai 2009 der A Inc. bere­its mit­geteilt, dass seine Man­dan­ten bei einem Abschluss der in Frage ste­hende Transak­tion Forderun­gen gel­tend machen wür­den. Anlässlich bzw. im Anschluss bei­der Ver­fahren schlossen einige Parteien, und darunter zwei Gesellschaften der A Gruppe, am 11. Feb­ru­ar 2013 bzw. am 13. März 2013 einen Ver­gle­ich in Mil­lio­nen­höhe (ca. USD 3’900’000 und USD 9’000’000) mit den Drit­tk­lägern ab.

Mit Schreiben vom 29. Juli 2013 teilte der Ver­sicher­er der Ver­sicherungsnehmerin mit, dass er gestützt auf Art. 6 VVG rück­wirk­end von der Police zurück­trete, da ihm die Umstände des Schreibens des US-Anwalts vor Police-Erneuerung nicht bekan­nt gewe­sen sei.

Am 1. Juni 2015 reichte die Ver­sicherungsnehmerin beim Kan­ton­s­gericht Zug Klage gegen den Ver­sicher­er ein. Mit Urteil vom 21. Feb­ru­ar 2018 wies das Kan­ton­s­gericht Zug die Klage ab. Es verneinte eine Deck­ung sowohl unter der Police 2008 als auch unter der Police 2009. Zudem verneinte es einen unberechtigten Rück­tritt vom Ver­sicherungsver­trag (Police 2009).

Dage­gen erhob die Ver­sicherungsnehmerin Beru­fung beim Oberg­ericht des Kan­tons Zug. Mit Entscheid vom 28. August 2019 wies das Oberg­ericht die Beru­fung ab. Es erwog, der Haf­tungs­fall, für den die Ver­sicherungsnehmerin Schadens­deck­ung ver­lange, falle unter die Police 2008. Die Anzeige der mitzuteilen­den Umstände sei nicht innert Frist in schriftlich­er Form bei der Beklagten einge­gan­gen. Da die ver­spätete Anzeige nicht unver­schuldet sei, seien die Ver­sicherungsansprüche der Ver­sicherungsnehmerin verwirkt.

Daraufhin erhob die Ver­sicherungsnehmerin Beschw­erde in Zivil­sachen beim Bun­des­gericht. Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­erde der Ver­sicherungsnehmerin teil­weise gut und wies die Sache zur Vorin­stanz zurück.

Vere­in­barung ein­er Ver­wirkungs­folge bei ver­späteter Anzeige

Vor Bun­des­gericht blieb offen­bar unange­focht­en, dass die Schadens­fälle unter die Police 2008 fall­en. Auch nicht bestrit­ten war, dass die Anzeige der rel­e­van­ten Umstände ver­spätet erfolgte.

Die Ver­sicherungsnehmerin machte vor Bun­des­gericht jedoch u.a. gel­tend, dass Ziff. 6 der Police 2008 keine Ver­wirkungs­folge vorse­he, falls die in Ziff. 6 Abs. 3 der Police 2008 vorge­se­hene Anzeige­frist nicht einge­hal­ten werde (E. 5.3).

Das Bun­des­gericht legte Ziff. 6 der Police 2008 aus, und stellte dabei fest, dass die Bes­tim­mung nicht expliz­it vor­sieht, dass im Fall ein­er ver­späteten Anzeige die Ver­wirkungs­folge ein­tritt und prüfte damit, ob die Klausel nach Treu und Glauben den­noch als Ver­wirkungsklausel zu ver­ste­hen ist (E. 5.3.5).

Das Bun­des­gericht führte aus, dass die Vere­in­barung ein­er Ver­wirkungs­folge mit dem Claims-made-Prinzip zwar in Ein­klang ste­ht. Dies bedeutet aber nicht, dass bei ein­er dem Claims-made-Prinzip unter­ste­hen­den Police im Falle der Ver­let­zung der Anzeigepflicht ohne Weit­eres von ein­er Ver­wirkung der Ansprüche unter dieser Police auszuge­hen wäre, da bei ein­er solchen Police eine Kürzung nach Art. 38 Abs. 2 VVG per se nicht aus­geschlossen ist (E. 5.3.5.2, m.w.H.). Vor­liegend geht es aber gemäss Bun­des­gericht um die Frage, was die Rechts­fol­gen ein­er ver­späteten Mel­dung gemäss Ziff. 6 Abs. 3 unter der Police 2008 sind. Allein aus der Natur des Claims-made-Prinzips lässt sich aber vor­liegend nicht ableit­en, dass Ziff. 6 Abs. 3 – wo eine Ver­wirkungs­folge mit keinem Wort erwäh­nt wird – nach Treu und Glauben so zu ver­ste­hen wäre, dass im Fall ein­er ver­späteten Anzeige die Ansprüche unter der Police 2008 – in Abwe­ichung von Art. 38 Abs. 2 VVG – ver­wirkt wären (E. 5.3.5.2, m.w.H.). Eine Abwe­ichung von der dis­pos­i­tiv­en Regel von Art. 38 Abs. 2 VVG – zumal dergestalt, dass eine Ver­wirkungs­folge vorge­se­hen wird – ist somit mit hin­re­ichen­der Deut­lichkeit zum Aus­druck zu brin­gen, was vor­liegend nicht der Fall ist (E. 5.3.5.3).

Das Bun­des­gericht kam damit zum Schluss, dass die Ausle­gung der Vorin­stanz, wonach die Parteien in der Police 2008 eine Ver­wirkungs­folge vere­in­bart haben, ver­let­zt somit Bun­desrecht (E. 5.3.6).

Wegbe­din­gung des Erforderniss­es eines Kausalzusam­men­hangs zwis­chen ver­späteter Anzeige und Höhe der Versicherungsleistung

Das Bun­des­gericht set­zte sich in der Folge mit der Frage auseinan­der, ob das Erforder­nis eines Kausalzusam­men­hangs zwis­chen ver­späteter Anzeige und Höhe der Ver­sicherungsleis­tung (Art. 38 Abs. 2 VVG) wegbedun­gen wurde, wie von der Vorin­stanz angenom­men. Das Bun­des­gericht erwog, dass es sich aus der Police 2008 nicht mit hin­re­ichen­der Klarheit ergibt, dass die Parteien in Abwe­ichung von Art. 38 Abs. 2 VVG vom Kausal­ität­ser­forder­nis hät­ten abwe­ichen wollen, und kam zum Schluss, dass die Annahme der Vorin­stanz, die Parteien hät­ten das Kausal­ität­ser­forder­nis wegbedun­gen, Bun­desrecht ver­let­zt (E. 5.9.2).

Im Übri­gen liess das Bun­des­gericht die Frage offen, ob eine Ver­wirkungsklausel den Ein­wand man­gel­nder Kausal­ität (stillschweigend) auss­chliesst, da vor­liegend die Parteien ohne­hin keine Ver­wirkungsklausel vere­in­barten (E. 5.9.2, m.w.H.).

Beweis­last für den Kausalitätsnachweis

Schliesslich hielt das Bun­des­gericht fest, dass dem Ver­sicher­er der Nach­weis obliegt, dass der Anspruch bei rechtzeit­iger Anzeige klein­er gewe­sen wäre (Kausal­ität­ser­forder­nis gemäss Art. 38 Abs. 2 VVG). Gemäss Bun­des­gericht ergibt sich dies u.a. aus der Ähn­lichkeit des Kürzungsrechts gemäss Art. 38 Abs. 2 VVG mit einem Schaden­er­satzanspruch (Analo­gie zu Art. 97 OR). Dies ste­ht auch im Ein­klang damit, dass die Ver­sicherung die Beweis­last für Tat­sachen trägt, die sie zu ein­er Kürzung oder Ver­weigerung der ver­traglichen Leis­tung berechti­gen. Der Nach­weis, dass die Ver­sicherungsleis­tung bei rechtzeit­iger Schaden­sanzeige klein­er aus­ge­fall­en wäre, ist in diesem Zusam­men­hang eine rechts­be­grün­dende Tat­sache für das Kürzungsrecht des Ver­sicher­ers gemäss Art. 38 Abs. 2 VVG. Dies im Gegen­satz zur Kon­stel­la­tion, in der die Parteien ver­traglich Recht­snachteile (namentlich eine Ver­wirkungs­folge) vere­in­bart haben und der Ver­sicherte recht­shin­dernd ein­wen­det, die ver­traglich vere­in­barten Recht­snachteile fän­den keine Anwen­dung, weil sich seine Obliegen­heitsver­let­zung nicht auf den Umfang der Ver­sicherungsleis­tung aus­gewirkt habe (E. 5.10.3.2, m.w.H.).