Im Entscheid 4A_318/2020 vom 22. Dezember 2020 befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, welche Anforderungen an die zumutbare Nachforschungspflicht einer Partei bei der Beurteilung der Befangenheit eines Schiedsrichters zu stellen sind.
Gegenüber dem chinesischen Schwimmer Sun Yang sprach das TAS mit Entscheid vom 28. Februar 2020 eine Sperre von acht Jahren wegen Verletzung der Dopingregeln aus. Kurze Zeit später, am 15. Mai 2020, erschien ein Artikel, der auf diverse Tweets des Schiedsgerichtspräsidenten Franco Frattini Bezug nahm. In diesen zwischen dem 28. Mai 2018 und dem 9. Juni 2019 veröffentlichten Tweets hatte Frattini u.a. eine chinesische Praxis bei der Schlachtung von Hunden und andere Tiermisshandlungen verurteilt, wobei die Tweets teilweise heftige Ausdrücke zur Hautfarbe der betroffenen chinesischen Personen enthielten. Sun Yang verlangte daraufhin die Revision mit der Begründung, dass Zweifel an Frattinis Unbefangenheit bestehen würden (vgl. Art. 121 lit. a BGG).
Das Bundesgericht führte zunächst aus, dass es die Frage bisher offen gelassen hatte, ob mangels gesetzlicher Bestimmung eine Partei die Revision eines Entscheids des Schiedsgerichts verlangen kann, wenn nachträglich Ausstandsgründe entdeckt werden, die bei zumutbarer Sorgfalt nicht vorher entdeckt werden konnten. Mit Verweis auf die Erwägungen in BGE 142 III 521 und auf das per 1. Januar 2021 in Kraft getretene revidierte 12. Kapitel des IPRG, das neuerdings die Revision regelt (vgl. Art. 190a IPRG), einschliesslich der Revision aufgrund der Befangenheit eines Schiedsrichters, rechtfertigte es sich gemäss Bundesgericht, vorliegend die altrechtliche Lücke zu schliessen und das fristgerecht gestellte Revisionsgesuch zuzulassen.
Die Gesuchsgegner, die Welt-Anti-Doping Agentur (WADA) und der Internationale Schwimmverband, stellten sich auf den Standpunkt, dass der Gesuchsteller den Ausstandsgrund während des Schiedsverfahrens hätte entdecken können, wenn er die zumutbare Sorgfalt aufgebracht hätte und die «führenden» sozialen Medien konsultiert hätte.
Das Bundesgericht rief zunächst in Erinnerung, dass eine Partei die Ausstandsgründe geltend machen muss, sobald sie davon Kenntnis hat oder sobald sie diese bei Ausübung zumutbarer Sorgfalt hätte erkennen müssen (so auch R34 des TAS-Code). Macht eine Partei den Ausstandsgrund verspätet geltend, so ist er verwirkt. Eine Partei darf sich nicht mit der Unabhängigkeitserklärung des Schiedsrichters begnügen, sondern hat gewisse diesbezügliche Nachforschungen anzustellen.
Die genauen Anforderungen an die Nachforschungspflicht hängen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die Nachforschungspflicht ist jedoch nicht unbegrenzt. Von den Parteien kann erwartet werden, dass sie gewisse Nachforschungen anstellen, namentlich im Internet, dass sie die wichtigsten Suchmaschinen verwenden und bestimmte Quellen konsultieren, die auf ein mögliches Risiko der Befangenheit eines Schiedsrichters hinweisen können. Als Beispiele nannte das Bundesgericht die Webseiten der wichtigsten Schiedsgerichtsinstitutionen, der Parteien, ihrer Rechtsvertreter und der Kanzleien, für die sie tätig sind, die Webseiten der Kanzleien, für die die Schiedsrichter tätig sind und, insbesondere in der Sportschiedsgerichtsbarkeit, die Webseiten der WADA und der betroffenen sportlichen Institutionen.
Jedoch ginge es zu weit, wenn die Parteien eine systematische und eingehende Analyse sämtlicher Quellen zu einem Schiedsrichter vornehmen müssten. Insbesondere bedeutet die Tatsache, dass eine Information im Internet öffentlich zugänglich ist, nicht automatisch, dass die Partei ihrer Nachforschungspflicht nicht nachgekommen ist, wenn sie diese Information trotz Nachforschungen nicht findet. Denn teilweise müssen konkrete, alarmierende Hinweise vorliegen, die auf einen Konflikt hindeuten, damit eine Partei überhaupt Abklärungen in eine bestimmte Richtung vornimmt. Betreffend soziale Medien führte das Bundesgericht aus, dass zwar prima facie nicht ausgeschlossen sei, dass eine Partei diese prüfen müsse. Allerdings sei unklar, welche als «führend» zu bezeichnen seien, da sich diese ständig und schnell veränderten. Zudem stelle sich die Frage, wie weit zurück in zeitlicher Hinsicht die Beiträge dieser Medien zu erforschen seien.
Vorliegend hatte der Gesuchsteller eine Google-Recherche unternommen und die Schiedsentscheide des TAS konsultiert. Dem Gesuchsteller kann nicht vorgeworfen werden, dass er nicht «Frattini» + «China» als Suchbegriffe eingegeben hatte. Denn dies käme einem Eingeständnis gleich, dass der Gesuchsteller von vornherein eine mögliche Unparteilichkeit des Schiedsrichters gegenüber Athleten mit seiner Nationalität hätte annehmen müssen, für die es keine Hinweise gegeben hatte. Zwar hätte der Gesuchsteller allenfalls Frattinis Twitter-Account prüfen müssen. Allerdings kann dem Gesuchsteller nicht eine Verletzung der Nachforschungspflicht vorgeworfen werden, wenn er die Tweets nicht entdeckte, die fast zehn Monate vor der Schiedsrichterernennung Frattinis publiziert wurden, zumal Frattini auf Twitter viel veröffentlichte. Für die nach der Schiedsrichterernennung publizierten Tweets könne man dem Gesuchsteller ebenfalls keinen Vorwurf machen, da von einer Partei nicht erwartet werden könne, dass sie während des gesamten Verfahrens diesbezügliche Abklärungen treffe.
Zur Prüfung, ob Frattini effektiv befangen gewesen sei, nahm das Bundesgericht auf die für die staatlichen Verfahren entwickelte Rechtsprechung sowie aufgrund der Eigenheiten des Schiedsverfahrens auf die IBA Guidelines on Conflict of Interest in International Arbitration Bezug, insbesondere auf deren Ziffern 2 b und 2 c. Gemäss diesen sind die Zweifel an einer Unvoreingenommenheit berechtigt, wenn aus objektiver Sicht in Kenntnis der Umstände nicht auszuschliessen ist, dass ein Schiedsrichter bei seinem Urteil von entscheidfremden Faktoren beeinflusst werden könnte.
Im vorliegenden Fall kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Verurteilungen der chinesischen Praktiken gegenüber den Tieren allein nicht genügten, um den Anschein der Befangenheit zu erwecken. Allerdings hatte der Schiedsrichter in diesem Zusammenhang mehrmals heftige Ausdrücke verwendet, teilweise auch noch nach der Ernennung zum Schiedsrichter, sodass die Umstände geeignet waren, Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Schiedsrichters zu erwecken. Entsprechend hiess das Bundesgericht das Revisionsgesuch gut.
Verfasst von Francesca Borio und Michael Feit