5A_971/2020: Rückwirkende Abänderung von Kinderunterhaltsbeiträgen

Im Urteil 5A_971/2020 vom 19.11.2021 set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage auseinan­der, ob in Eheschutz- und vor­sor­glichen Mass­nahme­nentschei­den fest­gelegte Kinderun­ter­halts­beiträge auf Antrag des Kindes (bzw. des geset­zlichen Vertreters) in analoger Anwen­dung von Art. 279 Abs. 1 ZGB rück­wirk­end für ein Jahr vor Recht­shängigkeit des Abän­derungs­ge­suchs angepasst wer­den kön­nen.

Das Bun­des­gericht erwog, die Abän­derung von Eheschutz­mass­nah­men richte sich nach Art. 179 ZGB, welche die Bes­tim­mungen über die Verän­derung der Ver­hält­nisse bei Schei­dung für sin­ngemäss anwend­bar erk­läre. Gemäss Recht­sprechung werde damit, wenn es um die Abän­derung von Kinderun­ter­halts­beiträ­gen gehe, über den Umweg von Art. 134 Abs. 2 ZGB auf die Art. 276 ff. ZGB, ins­beson­dere Art. 286 ZGB, ver­wiesen. Dem­nach set­ze das Gericht den Unter­halts­beitrag bei erhe­blich­er Verän­derung der Ver­hält­nisse auf Antrag eines Eltern­teils oder des Kindes neu fest oder hebe ihn auf.

Gemäss Art. 279 Abs. 1 ZGB könne das Kind gegen den Vater, die Mut­ter oder bei­de Eltern­teile für die Zukun­ft und für ein Jahr vor Klageer­he­bung auf Unter­halt  kla­gen. Die in der Bes­tim­mung vorge­se­hene Rück­wirkung solle dem Kind erlauben, vor Klageer­he­bung eine ein­vernehm­liche Lösung mit dem unter­haltsverpflichteten Eltern­teil zu suchen, ohne im Falle des Scheit­erns einen Nachteil gewär­ti­gen zu müssen. Nach der Recht­sprechung des Bun­des­gerichts könne das Kind in analoger Anwen­dung dieser Bes­tim­mung auch die Abän­derung von im Schei­dung­surteil fest­ge­set­ztem Kindesun­ter­halt rück­wirk­end für ein Jahr vor Recht­shängigkeit der Abän­derungsklage ver­lan­gen. Die Lehre erachte die Bes­tim­mung auch auf die Abän­derung von in anderen Ver­fahren fest­ge­set­zten Kindesun­ter­halts­beiträ­gen ana­log anwend­bar, stütze sich dabei aber lediglich auf die Recht­sprechung des Bun­des­gerichts zur Abän­derung von im Schei­dung­surteil fest­ge­set­zten Kinderunterhaltsbeiträgen.

Das Bun­des­gericht habe die analoge Anwen­dung von Art. 279 Abs. 1 ZGB auf die Abän­derung von in Eheschutz- oder vor­sor­glichen Mass­nahme­nentschei­den fest­gelegten Kinderun­ter­halts­beiträ­gen bis­lang noch nie aus­drück­lich bejaht. Die analoge Anwen­dung in solchen Fällen erscheine indes nicht willkür­lich. Dies aus fol­gen­den drei Grün­den: (1) in Anbe­tra­cht des Ver­weis­es von Art. 179 Abs. 1 ZGB auf Art. 286 ZGB, auf den Art. 279 Abs. 1 ZGB ana­log anwend­bar sei, (2) unter Berück­sich­ti­gung des Zwecks von Art. 279 Abs. 1 ZGB sowie (3) auf­grund der ein­hel­li­gen Mei­n­ung in der Lehre, die sich für eine analoge Anwen­dung ausspricht.

Das Urteil des Bun­des­gerichts entspricht der bish­eri­gen Prax­is der meis­ten kan­tonalen Gerichte und ist grund­sät­zlich zu begrüssen. Mit Blick auf den vom Bun­des­gericht erkan­nten Zweck — Ermöglichen von Ver­gle­ichs­ge­sprächen ohne Nachteil — wäre indes zu erwä­gen, die rück­wirk­ende Abän­derung auf einen Zeit­punkt vor Recht­shängigkeit nur zuzu­lassen, wenn das Kind (bzw. der geset­zliche Vertreter) vor Recht­shängigkeit stattge­fun­dene Ver­gle­ichs­ge­spräche nach­weisen kann. Ab diesem Zeit­punkt muss der Unter­haltss­chuld­ner mit höheren Unter­halts­beiträ­gen rech­nen und kann sich finanziell auf Nachzahlun­gen ein­stellen. Unter dieser zusät­zlichen Voraus­set­zung wäre es dem Rechts­frieden zuliebe zu begrüssen, wenn das Bun­des­gericht kün­ftig die analoge Anwen­dung von Art. 279 Abs. 1 ZGB in Abän­derungsver­fahren auch zugun­sten des Unter­haltss­chuld­ners zulassen würde. Damit kann auch der Unter­haltss­chuld­ner bei verän­derten Ver­hält­nisse in einem ersten Schritt ohne Nachteile zu befürcht­en eine ein­vernehm­liche Lösung suchen. Bis­lang hat das Bun­des­gericht die analoge Anwen­dung von Art. 279 Abs. 1 ZGB zugun­sten des Unter­haltss­chuld­ners abgelehnt (vgl. BGE 127 III 503).