6B_567/2020: Würdigung eines Gutachtens (amtl. Publ.)

Im Entscheid 6B_567/2020 vom 6. Dezem­ber 2021 äusserte sich das Bun­des­gericht zur Würdi­gung eines (aus­sagepsy­chol­o­gis­chen) Gutacht­ens. Hin­ter­grund war ein Strafver­fahren wegen sex­ueller Hand­lun­gen mit einem Anstalt­spflegling gegen den Betreuer ein­er Wohn­gruppe für Men­schen mit Wahrnehmungsstörun­gen. Im Rah­men des Ver­fahrens war ein Gutacht­en zur Aus­sage­fähigkeit der betreuten Per­son erstellt wor­den, die an ein­er kör­per­lichen und geisti­gen Mehrfach­be­hin­derung mit mit­tel­gr­a­di­ger Intel­li­genz­min­derung leidet.

Nach dem Grund­satz der freien Beweiswürdi­gung entschei­den die Organe der Strafrecht­spflege frei von Beweis­regeln und nur nach ihrer per­sön­lichen Ansicht auf­grund gewis­senhafter Prü­fung darüber, ob sie eine Tat­sache für erwiesen hal­ten (vgl. Art. 10 Abs. 2 StPO). Die Prü­fung der Glaub­haftigkeit von Aus­sagen ist primär Sache der Gerichte. Bei Auf­fäl­ligkeit­en in der Per­son kann ein Glaub­haftigkeits- bzw. Glaub­würdigkeitsgutacht­en als sach­lich geboten erscheinen, wobei das Gericht bei der Frage des Beizugs eines Sachver­ständi­gen über einen Ermessensspiel­raum ver­fügt. Zieht das Gericht man­gels eigen­er Fachken­nt­nis eine sachver­ständi­ge Per­son bei, ist es bei der Würdi­gung des Gutacht­ens jedoch nicht an den darin enthal­te­nen Befund gebun­den. Es hat vielmehr zu prüfen, ob sich auf­grund der übri­gen Beweis­mit­tel und der Vor­brin­gen der Parteien ern­sthafte Ein­wände gegen die Schlüs­sigkeit der gutachter­lichen Dar­legun­gen auf­drän­gen. Auch wenn das gerichtlich einge­holte Gutacht­en grund­sät­zlich der freien Beweiswürdi­gung unter­liegt, darf das Gericht in Fach­fra­gen aber nicht ohne triftige Gründe von ihm abrück­en und muss Abwe­ichun­gen begrün­den. Erscheint dem Gericht das Gutacht­en in wesentlichen Punk­ten zweifel­haft, hat es nöti­gen­falls ergänzende Beweise zur Klärung dieser Zweifel zu erheben. Ein Gutacht­en stellt namentlich dann keine rechts­genügliche Grund­lage dar, wenn gewichtige, zuver­läs­sig begrün­dete Tat­sachen oder Indizien dessen Überzeu­gungskraft ern­stlich erschüt­tern. Das trifft etwa zu, wenn der Sachver­ständi­ge die an ihn gestell­ten Fra­gen nicht beant­wortet, seine Erken­nt­nisse und Schlussfol­gerun­gen nicht begrün­det oder diese in sich wider­sprüch­lich sind, oder die Exper­tise sonst­wie Män­geln unter­liegt, die der­art offen­sichtlich sind, dass sie auch ohne spezielles Fach­wis­sen erkennbar sind (E. 2.3.2).

Gemäss Art. 189 StPO lässt die Ver­fahrensleitung das Gutacht­en von Amtes wegen oder auf Antrag ein­er Partei durch die gle­iche sachver­ständi­ge Per­son ergänzen oder verbessern oder bes­timmt weit­ere Sachver­ständi­ge, wenn das Gutacht­en unvoll­ständig oder unklar ist (lit. a) oder Zweifel an der Richtigkeit des Gutacht­ens beste­hen (lit. c). Nach der Recht­sprechung ist es bei der Erstel­lung eines Glaub­haftigkeitsgutacht­ens Auf­gabe des Sachver­ständi­gen, auf Grund­lage der mit wis­senschaftlichen Meth­o­d­en erhobe­nen und aus­gew­erteten Befunde und Anknüp­fungstat­sachen eine Wahrschein­lichkeit­sein­schätzung des Erleb­nis­bezugs ein­er Aus­sage abzugeben. Der hierzu notwendi­ge diag­nos­tis­che Prozess fol­gt der Leit­frage, ob die aus­sagende Per­son unter Berück­sich­ti­gung der konkreten Umstände, der intellek­tuellen Leis­tungs­fähigkeit und der Motivlage die zu beurteilende Aus­sage auch ohne realen Erleb­nish­in­ter­grund machen kön­nte. Die Analyse der Qual­ität der Aus­sagen sind mit­tels merk­mal­sori­en­tiert­er Inhalt­s­analyse anhand von Realkri­te­rien vorzunehmen. Realkri­te­rien sind Merk­male, deren aus­geprägtes Vorhan­den­sein Indika­tor­w­ert für den Erleb­nis- bzw. Wahrheits­ge­halt ein­er Aus­sage hat. Aus ein­er bes­timmten Anzahl von Merk­malen darf allerd­ings nicht auf die Qual­ität der Aus­sage geschlossen wer­den, zumal im Einzelfall auch einzelne Merk­male aus­re­ichen kön­nen, um den Erleb­nis­bezug ein­er Aus­sage anzunehmen. Richtiger­weise kommt es deshalb auf die Qual­ität der Real­ität­skri­te­rien an. Das Bun­des­gericht anerken­nt bei der Begutach­tung im Grund­satz Meth­o­d­en­frei­heit. Die Wahl der Meth­ode muss aber begrün­det sein. Die wis­senschaftlichen Stan­dards müssen einge­hal­ten und die Schlussfol­gerun­gen trans­par­ent sowie für die Ver­fahrens­beteiligten nachvol­lziehbar dargestellt sein. Die mündliche Erläuterung des Gutacht­ens bietet Gele­gen­heit, Unklarheit­en zu beseit­i­gen und durch direk­te Kom­mu­nika­tion das Ver­ständ­nis für die aufzuk­lären­den Zusam­men­hänge zu fördern (E. 2.3.3).

Indem die Vorin­stanz nach Ansicht des Bun­des­gerichts vor­liegend ohne objek­tiv triftige Gründe von den Erken­nt­nis­sen aus dem aus­sagepsy­chol­o­gis­chen Gutacht­en abwich und in der Folge trotz ange­blich­er Zweifel am Gutacht­en keine Ergänzung bzw. Verbesserung des­sel­ben einge­holt hat­te, ver­stiess sie gegen Art. 189 StPO sowie gegen das Willkürver­bot nach Art. 9 BV (E. 2.4). Tat­säch­lich lagen keine ern­sthaften Ein­wände gegen die Schlüs­sigkeit der gutachter­lichen Dar­legun­gen vor, wonach die betr­e­f­fende Per­son als aus­sagetüchtig und ihre Aus­sagen als glaub­haft eingeschätzt wor­den waren (E. 2.6).