Im zur Publikation vorgesehenen Entscheid 2C_704/2021 vom 12. Mai 2022 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ab wann die einjährige Verjährungsfrist bei der Staatshaftung nach kantonalem Recht (VD) zu laufen beginnt, und kam im konkreten Fall zum Schluss, dass die Verjährungsfrist nicht nach Beendigung der rechtswidrigen Haftbedingungen zu laufen begann, sondern erst nach der Verlegung von der betroffenen Haftanstalt in die Vollzugseinrichtung zwecks Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe.
Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Beschwerdeführer befand sich vom 10. Mai 2017 bis zum 5. Juni 2018 in Untersuchungshaft in der Haftanstalt Bois-Mermet (prison du Bois-Mermet) in Lausanne. Mit Urteil vom 5. Juni 2018 wurde der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von 4.5 Jahren verurteilt, unter Abzug von 405 Tagen, die er in Haft verbracht hatte. Am 5. Juni 2018 trat der Beschwerdeführer den Vollzug seiner Freiheitsstrafe an, und er wurde 25 Tage später am 30. Juli 2018 in die Vollzugseinrichtung Etablissements de la plaine de l’Orbe (VD) verlegt.
Mit Schreiben vom 29. Juli 2019 bestätigte der Staat (VD), bis zum 31. Juli 2020 auf die Verjährungseinrede zu verzichten, solange diese nicht bereits eingetreten ist.
Mit Eingabe vom 30. Juli 2019 beantragte der Beschwerdeführer beim zuständigen Gericht, es sei festzustellen, dass die Haftbedingungen in der Haftanstalt Bois-Mermet rechtswidrig waren. Mit Beschluss vom 6. September 2019 stellte das zuständige Gericht fest, dass die Haftbedingungen vom 10. Mai 2017 bis zum 12. Januar 2018 rechtswidrig waren: Während dieser Zeit teilte der Beschwerdeführer eine Zelle von 9 m² mit einem anderen Häftling; in der Zelle konnte es sehr warm werden und das WC, das sich in der Zelle befand, war nicht durch eine Zwischenwand räumlich abgetrennt; der Beschwerdeführer verbrachte täglich über 22.5 Stunden in der Zelle. Dieser Entscheid wurde nicht angefochten und erwuchs in Rechtskraft.
Mit Eingabe vom 3. Februar 2020 erhob der Beschwerdeführer Klage beim zuständigen Zivilgericht gegen den Kanton Waadt und verlangte eine Genugtuung von CHF 12’350 zzgl. Zins für die rechtswidrigen Haftbedingungen vom 10. Mai 2017 bis zum 12. Januar 2018. Mit Urteil vom 27. Januar 2021 wies das Zivilgericht die Klage wegen Verjährung ab. Das Kantonsgericht Waadt wies die dagegen erhobene Berufung des Beschwerdeführers mit Entscheid vom 10. August 2021 ab.
Daraufhin erhob der Beschwerdeführer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht, welches die Beschwerde mit Urteil vom 12. Mai 2022 guthiess. Das vorinstanzliche Urteil wurde aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, obschon das kantonale Recht die Zuständigkeit der Zivilgerichte vorsieht
Zunächst bestätigte das Bundesgericht seine Rechtsprechung, wonach die Staatshaftung bei rechtswidrigen Haftbedingungen eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit ist, obschon das kantonale Recht für die Geltendmachung allfälliger Ansprüche gegen den Staat ein Verfahren vor den Zivilgerichten vorsieht.
In diesem Zusammenhang ist die II. öffentlich-rechtliche Abteilung zuständig (Art. 30 Abs. 1 lit. c Ziff. 1 und Art. 33 BGerR). In Absprache mit der strafrechtlichen Abteilung muss die alte Praxis, wonach die strafrechtliche Abteilung für diese Verfahren zuständig war, abgeändert werden (E. 1.1).
Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung
Im vorliegenden Fall bejahte das Bundesgericht eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (E. 1.4): Die Frage, ob es willkürlich ist oder die EMRK verletzt, von einer Person, die vor ihrem Urteil unter rechtswidrigen Bedingungen inhaftiert war, zu verlangen, dass sie ihre Ansprüche gegenüber dem Staat innerhalb eines Jahres nach Beendigung des rechtswidrigen Zustandes geltend macht, selbst wenn sie im selben Gefängnis verbleibt, wurde vom Bundesgericht nie behandelt. Es handelt sich hierbei um eine charakteristische Unsicherheit, die nicht nur die grundlegende Problematik des Zugangs zur Justiz für Häftlinge berührt, sondern darüber hinaus zahlreiche weitere Fälle betreffen kann. Diese Unsicherheit bedarf einer Klärung durch das Bundesgericht, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist (E. 1.4).
Anwendbares kantonales Recht
Zunächst bestätigte das Bundesgericht, dass die geltend gemachten Genugtuungsansprüche nach kantonalem Recht zu überprüfen sind. Die Entschädigung fällt nicht in den Anwendungsbereich der StPO, selbst wenn es sich um eine Untersuchungshaft handelt, die im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnet wurde. Art. 431 StPO sieht zwar vor, dass es der Strafbehörde obliegt, dem Beschuldigten, gegenüber welchem rechtswidrig Zwangsmassnahmen vor dem Urteil angewandt wurden, eine angemessene Genugtuung zuzusprechen. Mit dieser Bestimmung soll verhindert werden, dass Beschuldigte noch während des laufenden Strafverfahrens ein Staatshaftungsverfahren gemäss den vom kantonalen Recht festgelegten Vorschriften einleiten müssen. Diese Sondervorschrift ist jedoch nicht mehr anwendbar, sobald das Strafverfahren abgeschlossen ist. Die Frage der Entschädigung für allfällige rechtswidrige Haftbedingungen vor dem Urteil ist nach Abschluss des Strafverfahrens nur noch nach dem anwendbaren kantonalen Staatshaftungsrecht zu beurteilen (E. 3.2).
Die Haftung der kantonalen öffentlichen Körperschaften, der Beamten und der öffentlichen Angestellten der Kantone gegenüber Privatpersonen für den Schaden, den sie in Ausübung ihrer amtlichen Verrichtungen verursachen, ist grundsätzlich in Art. 41 ff. OR geregelt. Den Kantonen steht es jedoch frei, diese Haftung gemäss Art. 59 Abs. 1 ZGB und Art. 61 Abs. 1 OR dem kantonalen öffentlichen Recht zu unterstellen. Wenn der Kanton eine Regelung erlässt, unterliegt die Haftung des Gemeinwesens dem kantonalen öffentlichen Recht. Verweist diese Regelung subsidiär auf die Bestimmungen des OR, so ist dieses als subsidiäres kantonales Recht anwendbar (E. 4.1).
Der Kanton Waadt hat von der obgenannten Möglichkeit Gebrauch gemacht und das LRECA/VD erlassen. Dieses Gesetz regelt den Ersatz von Schäden, die von Staatsbeamten in Ausübung ihrer kantonalen oder kommunalen öffentlichen Funktion widerrechtlich oder in Verletzung ihrer Dienstpflichten verursacht wurden (Art. 1, 3 und 4 LRECA/VD). Es sieht insbesondere vor, dass jemand, der in seinen persönlichen Interessen durch Staatsbedienstete verletzt wird, vom Kanton oder den kommunalen Körperschaften, denen diese unterstehen, Schadenersatz verlangen kann. Die geschädigte Person kann auch die Zahlung einer Entschädigung als Genugtuung verlangen, wenn diese durch die besondere Schwere des erlittenen Schadens gerechtfertigt ist (Art. 6 Abs. 2 LRECA/VD). Der Anspruch verjährt mit Ablauf von einem Jahr ab Kenntnis des Schadens und jedenfalls aber mit Ablauf von zehn Jahren ab der schädigenden Handlung (vgl. Art. 7 LRECA/VD). Nach Art. 8 LRECA/VD sind im Übrigen die Bestimmungen des OR über die Ansprüche aus unerlaubten Handlungen als kantonales Recht sinngemäss anwendbar (E. 4.2).
Willkürliche Rechtsanwendung: Die Jahresfrist beginnt erst nach der Verlegung des Häftlings von der in Frage stehenden Haftanstalt zu laufen
Das Bundesgericht überprüfte, ob die Vorinstanz in Willkür verfiel und Art. 9 BV verletzte, indem sie erwog, dass der Genugtuungsanspruch gemäss Art. 7 LRECA/VD verjährt sei, da dieser erst am 23. Februar 2020 geltend gemacht wurde (E. 6).
Das Bundesgericht hielt zunächst fest, dass die in Art. 7 LRECA/VD vorgesehene relative Verjährungsfrist von einem Jahr für die Geltendmachung eines Haftungsanspruchs gegen den Staat Waadt — die noch in zahlreichen kantonalen Regelungen über die Staatshaftung zu finden ist — sehr kurz ist. Sie unterscheidet sich deutlich von der seit dem 1. Januar 2020 geltenden 3‑jährigen Verjährungsfrist nach Art. 60 Abs. 1 OR. Der Bundesgesetzgeber war der Ansicht, dass sich die frühere relative Verjährungsfrist von einem Jahr, die in aArt. 60 Abs. 1 OR verankert war, insbesondere im internationalen Vergleich als zu kurz erwies (E. 6.3).
Art. 7 LRECA/VD stimmt mit dem aArt. 60 Abs. 1 OR überein und soll gleich wie aArt. 60 Abs. 1 OR ausgelegt werden. Das Bundesgericht hat bereits sehr früh den äusserst strengen Charakter einer relativen Verjährungsfrist von einem Jahr hervorgehoben und diese als “sehr kurz” bezeichnet. Das Bundesgericht betonte daher die Notwendigkeit, gegenüber dem Gläubiger hinsichtlich des Beginns einer solchen Frist nicht zu streng zu sein (E. 6.4).
Die Jahresfrist von aArt. 60 Abs. 1 OR — und im weiteren Sinne auch diejenige von Art. 7 LRECA/VD — beginnt zu laufen, wenn die geschädigte Person Kenntnis von der Person des Schädigers und der wesentlichen Elemente des Schadens hat, die es ihr erlauben, den gesamten Schaden grob zu überblicken und sein Haftungsbegehren in den Grundzügen zu begründen. Aufgrund der kurzen Verjährungsfrist von einem Jahr muss dem Geschädigten unter Umständen noch eine gewisse Zeit eingeräumt werden, um das endgültige Ausmass des Schadens allein oder unter Beizug Dritter abschätzen zu können. Massgebend ist die tatsächliche Kenntnis des Schadens und nicht der Zeitpunkt, in dem die geschädigte Person bei gehöriger Aufmerksamkeit davon hätte Kenntnis erlangen können (E. 6.5).
Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist der Begriff der Kenntnis des Schadens weit auszulegen, wenn die unerlaubte Handlung nicht einmalig und unmittelbar ist und der Schaden aus diesem Grund variieren und sich vergrössern kann. Die Frist von aArt. 60 OR läuft nur, wenn der Geschädigte sich ein klares Bild vom Ausmass der Verletzung als Ganzes machen kann, auch wenn einzelne frühere Handlungen bereits zur Begründung der Klage ausreichten. Wenn der Schaden auf einen noch nicht abgeschlossenen Vorgang zurückzuführen ist, beginnt die Frist erst mit dem Abschluss dieses Vorgangs. Dies ist der Fall, wenn ein Schaden durch wiederholtes oder andauerndes schädigendes Verhalten verursacht wird (E. 6.5).
Das Bundesgericht setzte sich sodann mit dem Urteil 6B_1015/2020 auseinander, in welchem der Genugtuungsanspruch eines ehemaligen Häftlings derselben Strafanstalt wegen Verjährung abgewiesen wurde. Das Bundesgericht hielt fest, dass dieser Fall anders gelagert war als der vorliegende Fall, da dort die rechtswidrigen Haftbedingungen mit der Verlegung des Häftlings in eine andere Strafanstalt endeten (E. 6.6 und E. 6.7). Dabei betonte das Bundesgericht, dass es im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen war, dass die rechtswidrigen Haftbedingungen wieder vorkommen, da die Haftanstalt Bois-Mermet für ihre strukturellen Probleme bekannt ist, die es ihr nicht immer erlauben, ein rechtskonformes Haftregime zu gewährleisten. Der Beschwerdeführer konnte somit nicht darauf vertrauen, dass diese vor seiner Verlegung in eine andere Strafanstalt nie mehr stattfinden werden. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten ist, ändert daran nichts (E. 6.8).
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass der Entscheid der Vorinstanz willkürlich ist und hob diesen auf (E. 6.9–6.11):
“6.9. On ne voit ainsi pas comment le recourant aurait pu reconnaître qu’il ne souffrirait plus de conditions de détention illicites au sein de la prison du Bois-Mermet dès l’amélioration de son traitement carcéral intervenu 12 janvier 2018 et, partant, comment il aurait pu avoir connaissance à cette date du préjudice maximal lié à sa détention dans cet établissement. En l’absence de toute garantie quant à la pérennité d’un tel changement, dont on ne pouvait exclure qu’il ne soit temporaire, l’intéressé ne pouvait en aucun cas se rendre compte à cet instant que le traitement carcéral illicite dont il avait été victime jusque-là pendant 247 jours avait durablement pris fin. Il ne pouvait alors pas discerner non plus l’ampleur totale du tort moral illicite qu’il allait subir jusqu’à son départ de la prison du Bois-Mermet en date du 30 juillet 2018. (…)
6.10. (…). [L’]approche [du Tribunal cantonal] s’inscrit en porte-à-faux avec la jurisprudence constante et établie selon laquelle le délai annal de l’art. 60 al. 1 CO, auquel correspond l’art. 7 LRECA/VD, doit être appliqué de manière large envers le lésé et ne commencer à courir qu’à partir du moment où celui-ci a une connaissance effective de son dommage (…). Le raisonnement à la base de l’arrêt attaqué, qui aboutit à une application extrêmement stricte des règles en matière de délai de prescription, contrairement à ce qu’a toujours préconisé la jurisprudence, ne se justifie en outre par aucun motif objectif, alors même qu’il restreint de manière importante le droit fondamental d’accès à la justice des détenus garanti par les art. 30 al. 1 et 6 CEDH (…). (…) L’arrêt attaqué repose ainsi sur une motivation manifestement insoutenable qui s’avère, partant, arbitraire.
6.11. Enfin, l’arrêt attaqué est également arbitraire dans son résultat. Si le Tribunal cantonal n’avait pas appliqué l’art. 7 LRECA/VD d’une manière excessivement sévère à l’endroit du recourant, il aurait dû retenir que le délai de prescription d’une année applicable aux prétentions de ce dernier n’avait pas pu commencer à courir avant son transfert dans une autre prison en date 30 juillet 2018 et qu’il n’était dès lors pas encore arrivé à échéance lorsque l’Etat de Vaud a renoncé, le 29 juillet 2019, à se prévaloir de la prescription jusqu’au 31 juillet 2020 pour autant que celle-ci ne soit pas déjà acquise. Aucun élément de fait constaté dans l’arrêt attaqué n’indique en effet que le recourant ait pu reconnaître ou estimer son préjudice total découlant de son incarcération au sein de la prison du Bois-Mermet avant son transfert dans un autre établissement carcéral (…). (…) C’est donc de manière choquante que l’arrêt attaqué aboutit à la conclusion que le Président du Tribunal civil pouvait refuser d’entrer en matière sur les prétentions du recourant en les considérant prescrites.”