In seinem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 4A_179/2021 vom 20. Mai 2022 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob das Verhalten des in einen Tramunfall verwickelten Geschädigten als grobes Verschulden qualifiziert und zur Haftungsentlastung der Stadt Zürich gemäss Art. 40c Abs. 2 lit. b EBG führt. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass der ortskundige Geschädigte die geltenden Verkehrsregeln grobfahrlässig verletzte, indem er — nachdem er mit seinem Mobiltelefon beschäftigt war — das Tramtrassee betrat, ohne sich zu vergewissern, dass auch von links kein Tram nahte. Daran ändert nichts, dass der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum gewohnten, alltäglichen städtischen Strassenbild gehören mag.
Siehe auch die Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 16. Juni 2022.
Dem Entscheid lag folgender Sachverhalt zugrunde:
B wurde am 20. Februar 2019 bei einer Kollision mit einem Tram der Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich schwer verletzt: B stand an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete seinen Blick auf das Mobiltelefon, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Dann kam es zur verhängnisvollen Kollision.
Mit Teilklage beantragte B am 8. Oktober 2019 beim Bezirksgericht Zürich, die Stadt Zürich sei gestützt auf Art. 40b Abs. 1 EBG zu verpflichten, ihm aus dem Unfall vom 20. Februar 2019 eine Genugtuung von CHF 30’000 nebst Zins zu bezahlen. Die Stadt Zürich beantragte die Abweisung der Teilklage unter Berufung auf die Entlastungsgründe gemäss Art. 40c EBG.
In der Folge beschränkte das Bezirksgericht das Verfahren auf die Frage der Haftung und erklärte mit Entscheid vom 2. Juni 2020, dass die Stadt Zürich aus dem Unfall im Grundsatz haftet. Es war zum Schluss gelangt, dass sich das mit dem Betrieb eines Trams verbundene charakteristische Risiko verwirklicht habe und eine Entlastung der Stadt Zürich ausgeschlossen sei.
Die dagegen gerichtete Berufung der Stadt Zürich wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 9. Februar 2021 ab.
Gegen diesen Entscheid erhob die Stadt Zürich Beschwerde beim Bundesgericht. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob den Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich auf und wies die Teilklage ab. Die Sache wurde zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens an das Obergericht zurückgewiesen.
Haftung nach Art. 40b abs. 1 EBG und Haftungsentlastung nach Art. 40c EBG im Allgemeinen
Zunächst rief das Bundesgericht die allgemeinen Grundsätze einer Haftung gemäss EBG in Erinnerung.
Nach Art. 40b Abs. 1 EBG haftet der Inhaber eines Eisenbahnunternehmens für den Schaden, wenn die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind, dazu führen, dass ein Mensch getötet oder verletzt wird oder ein Sachschaden entsteht. Nach Art. 40c EBG wird er allerdings von der Haftpflicht entlastet, wenn ein Sachverhalt, der ihm nicht zugerechnet werden kann, so sehr zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, dass er als dessen Hauptursache anzusehen ist (Abs. 1), wie höhere Gewalt (Abs. 2 lit. a), oder grobes Verschulden der geschädigten oder einer dritten Person (Abs. 2 lit. b) (E. 3.1).
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung wird Art. 40c EBG im Wesentlichen gemäss der Rechtsprechung zur Unterbrechung des Kausalzusammenhangs interpretiert, indem das Drittverhalten nur eine Hauptursache im Sinne der Bestimmung darstellt, wenn es einen derart hohen Wirkungsgrad aufweist, dermassen ausserhalb des normalen Geschehens liegt, dass die vom Haftpflichtigen gesetzte Ursache nach wertender Betrachtungsweise für die eingetretene Schädigung als rechtlich nicht mehr beachtlich erscheint. Das Verhalten einer Drittperson vermag den Kausalzusammenhang nur zu unterbrechen, wenn diese Zusatzursache derart ausserhalb des normalen Geschehens liegt, dass damit nicht zu rechnen war. Die Verwirklichung der Betriebsgefahr muss im Verhältnis zum hinzukommenden Sachverhalt von derart untergeordneter Bedeutung sein, dass sie nur noch als eine zufällige, unbedeutende Teilursache des Schadens erscheint. Dabei wird nicht auf die subjektive Zurechenbarkeit abgestellt. Zur Beurteilung, ob ein Sachverhalt vorliegt, der den adäquaten Kausalzusammenhang unterbricht, soll vielmehr ausschliesslich das objektive Verhalten der Drittperson in Beziehung gesetzt werden zum Einfluss der charakteristischen Betriebsgefahr der Eisenbahn (E. 3.2).
Grobes Selbstverschulden insbesondere (Art. 40c Abs. 2 lit. b EBG)
Sodann setzte sich das Bundesgericht mit dem Begriff des groben Selbstverschuldens im Fall eines Fussgängers im Strassenverkehr.
Die Sorgfaltswidrigkeit ergibt sich allgemein aus dem Vergleich des tatsächlichen Verhaltens des Handelnden mit dem hypothetischen Verhalten eines durchschnittlich sorgfältigen Menschen, wobei das Verschulden umso schwerer wiegt, je grösser das Ausmass der Abweichung vom Durchschnittsverhalten ist (E. 3.3).
Die Strassenbahn ist gegenüber dem Fussgänger grundsätzlich vortrittsberechtigt (Art. 38 Abs. 1 SVG), gemäss Art. 47 Abs. 2 Satz 1 VRV selbst auf Fussgängerstreifen. Solange der Strassenbahnführer keine Signalisation oder Verkehrsregelung verletzt und kein technisches Versagen vorliegt, ist dem Fussgänger bei einer Kollision grundsätzlich ein Selbstverschulden anzulasten. Ein grobes Selbstverschulden liegt vor, wenn eine geschädigte Person elementare Sorgfaltsregeln ausser Acht lässt, die eine vernünftige Person in der gleichen Lage beachtet hätte. Dabei ist grundsätzlich das Verhalten eines Durchschnittsmenschen in der gleichen Situation massgebend. Die geschädigte Person muss jene elementaren Vorsichtsgebote unbeachtet gelassen haben, die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte. Auf städtischem Gebiet ist jene Aufmerksamkeit aufzuwenden, die im Stadtverkehr notwendig ist. Handelt die geschädigte Person unter Würdigung der Gesamtumstände nicht nur unaufmerksam, sondern “äusserst unvorsichtig”, dann ist von grobem Selbstverschulden auszugehen (E. 3.4).
Vorinstanzliche Beurteilung der Erstinstanz und Vorinstanz: grobes Selbstverschulden verneint
Die Erstinstanz hatte erwogen, heutzutage gehöre der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum städtischen Strassenbild. Das Mobiltelefon sei die Ablenkung unserer Zeit schlechthin. Solange sich ein Fussgänger mit Mobiltelefon auf dem Trottoir oder einer Traminsel bewege, bleibe dies in aller Regel unproblematisch. Anders verhalte es sich, wenn er sein Augenmerk beim Betreten der Fahrbahn weiterhin auf sein Mobiltelefon richte. Ein solches Verhalten sei unaufmerksam. Jedoch sei heutzutage damit zu rechnen, dass über ihr Mobiltelefon gebeugte Fussgänger achtlos die Strasse beträten. Dieses Verhalten weiche nicht massgeblich vom zu erwartenden normalen Geschehen ab. Der adäquate Kausalzusammenhang werde deshalb nicht unterbrochen. Das Verhalten des Beschwerdegegners sei nur bei der Schadensbemessung als Selbstverschulden zu berücksichtigen (E. 4.2.2).
Die Vorinstanz hatte u.a. erwogen, B habe sich von seinem Mobiltelefon ablenken lassen, als er die Tramgeleise betreten habe. Allerdings stehe nicht fest, wie lange und weshalb diese Ablenkung erfolgt sei. B könne nicht vorgeworfen werden, er habe sich längere Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigt. Aus der Gegenrichtung sei praktisch zeitgleich ein anderes Tram in die Haltestelle eingefahren. Daher sei erhöhte Aufmerksamkeit gefordert gewesen von B, der beabsichtigt habe, nach dem Fussgängerstreifen auch die Tramgeleise zu überqueren. B habe gegen die Verkehrsregeln verstossen, indem er sich seinem Mobiltelefon gewidmet und dem anderen Tram zugewandt habe. Denn er habe nicht nach links geschaut. Sein Verschulden wiege erheblich, aber nicht so schwer, dass die Betriebsgefahr, die vom Trambetrieb ausgeht, gänzlich in den Hintergrund gerückt würde. Ob dies auch dann der Fall wäre, wenn B sich längere Zeit mit Blick auf das Mobiltelefon im Stadtverkehr bewegt hätte, brauche nicht entschieden zu werden (E. 4.2.2).
Bundesgerichtliche Beurteilung: grobes Selbstverschulden bejaht
Das Bundesgericht befand, dass die Beurteilung der Vorinstanz nicht überzeugt (E. 4.3), und kam zum Schluss, dass das verkehrsregelwidrige Verhalten des Beschwerdegegners von B als Hauptursache des Unfalls erscheint, weshalb die Voraussetzungen für eine Entlastung von der Haftpflicht nach Art. 40c EBG erfüllt sind (E. 4.4).
Zunächst analysierte das Bundesgericht seine spärliche Rechtsprechung zu Kollisionen zwischen Fussgängern und Trams (E. 4.3.1) und zur Grobfahrlässigkeit in einem anderen Zusammenhang (E. 4.3.2).
Das Bundesgericht erwog, dass B gegen die geltenden Verkehrsregeln verstiess, indem er das Tramtrassee betrat, ohne sich zu vergewissern, dass auch von links kein Tram nahte. Bei Fehlverhalten im Strassenverkehr ist grobe Fahrlässigkeit in der Regel dann anzunehmen, wenn in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall eine elementare Verkehrsvorschrift oder mehrere wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt wurden. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit ist in diesen Fällen weiter zu fassen als derjenige der groben Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 2 SVG, welcher ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten voraussetzt (E. 4.3.3).
Im konkreten Fall ereignete sich der Unfall bei schöner Witterung und übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte es den Fussgängern, herannahende Trams auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem zu erkennen. Mehrere Augenzeugen bestätigten übereinstimmend, dass B bei der Kollision und unmittelbar davor abgelenkt war, weil er sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigte. B begab sich unvermittelt in den Gleisbereich, ohne das einfahrende Tram wahrzunehmen. Selbst wenn er kurz nach rechts auf ein anderes Tram geblickt haben sollte, steht fest, dass er vom Mobiltelefon abgelenkt war und das von links kommende Tram nicht beachtete. Es ist nicht entscheidend, ob sich B während längerer Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigte, als er sich im Stadtverkehr fortbewegte. Es kann auch nicht ausschlaggebend sein, dass praktisch gleichzeitig ein Tram aus der Gegenrichtung in die Haltestelle einfuhr. Im Gegenteil hätte gerade dieser Umstand erhöhte Aufmerksamkeit von B gefordert, was auch die Vorinstanz bemerkt hatte. Umso mehr hätte er den Blick vom Mobiltelefon abwenden und nach allen Seiten richten müssen (E. 4.3.4).
Daran ändert nichts, dass der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum gewohnten, alltäglichen städtischen Strassenbild gehören mag. B war unbestritten ortskundig. Die Gefahrensituation war ihm ohne weiteres bewusst. Er wohnte nur 600 Meter von der Tramhaltestelle entfernt. Es kann nicht gesagt werden, dass jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen dasselbe hätte passieren können. Auch hier geht es nicht um den moralischen Vorwurf, der B gemacht werden kann, sondern um die Frage, wie weit der Stadt Zürich die Folgen ihrer gefährlichen Tätigkeit noch zugerechnet werden können. B schuf die Gefahr völlig unnötig, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Es lag nicht an der Stadt Zürich, die Tramhaltestelle besser zu sichern. Vielmehr hätte B ein Mindestmass an Sorgfalt walten lassen und zumindest kurz nach links blicken müssen, bevor er das Tramtrassee betrat. B handelte grobfahrlässig (E. 4.3.5).
Schliesslich wies das Bundesgericht darauf hin, dass die Kritik in der Lehre im vorliegenden Fall nicht beachtlich ist, da sie anders gelagerte Fälle betrifft (E. 4.3.6).