5A_712/2021: Verhältnis zwischen vorsorglichem Massnahmen- und Endentscheid bei selbständiger Unterhaltsklage

Wer­den im Laufe ein­er selb­ständi­gen Unter­halt­sklage vor­sor­glich Unter­halts­beiträge gesprochen, darf die Unter­halt­spflicht im Endentscheid einzig für den Zeit­punkt ab Recht­skraft des Endentschei­ds geregelt wer­den. Mit anderen Worten sind die vor­sor­glich gesproch­enen Unter­halts­beiträge defin­i­tiv und kön­nen im Endentscheid nicht mehr rück­wirk­end über­prüft werden.

Urteil­szusam­men­fas­sung

Das Urteil BGer 5A_712/2021 vom 23.5.2022 bet­rifft eine selb­ständi­ge Unter­halt­sklage bei fest­ste­hen­dem Kindesver­hält­nis. Vor Bun­des­gericht wehrte sich der Beschw­erde­führer dage­gen, dass die Vorin­stanz die Unter­halts­beiträge im Endentscheid trotz Vor­liegen eines vor­sor­glichen Unter­halt­sentschei­ds rück­wirk­end fes­tlegte und deut­lich erhöhte.

Das Bun­des­gericht erwog, vor­sor­gliche Mass­nah­men wür­den bis zum Ein­tritt der Recht­skraft des Endentschei­ds gel­ten. Mit Ablauf der Rechtsmit­tel­frist trete bei vor­sor­glichen Mass­nah­men die formelle Recht­skraft ein und sie kön­nten grund­sät­zlich wed­er rück­wirk­end wider­rufen noch abgeän­dert werden.

Gemäss Recht­sprechung zum Schei­dungsrecht sei es bei Vor­liegen eines vor­sor­glichen Unter­halt­sentschei­ds aus­geschlossen, den nachehe­lichen Unter­halt im Schei­dung­surteil für einen Zeitraum vor Ein­tritt der Teil­recht­skraft des Schei­dung­surteils (im Schei­dungspunkt) festzule­gen. Das Schei­dungs­gericht könne im Schei­dung­surteil somit nicht rück­wirk­end auf den vor­sor­glichen Unter­halt­sentscheid zurück­kom­men. Dies gelte auch für Kindesunterhaltsbeiträge.

Es sei nicht ersichtlich, warum diese Grund­sätze nicht auch bei der selb­ständi­gen Unter­halt­sklage gel­ten sollen. Entsprechend sei es unzuläs­sig, die im Laufe ein­er selb­ständi­gen Unter­halt­sklage vor­sor­glich zuge­sproch­enen Unter­halts­beiträge im Endentscheid rück­wirk­end abzuändern. 

Das Bun­des­gericht heisst die Beschw­erde daher gut und hob das vorin­stan­zliche Urteil betr­e­f­fend die im Endentscheid vor Ein­tritt der Recht­skraft zuge­sproch­enen Unter­halts­beiträge auf.

Kom­men­tar

Vor­ab gilt es zu präzisieren, dass die rück­wirk­ende Abän­derung von im Laufe ein­er selb­ständi­gen Unter­halt­sklage vor­sor­glich gesproch­enen Unter­halts­beiträ­gen nur aus­geschlossen ist, wenn das Kindesver­hält­nis bere­its fest­ste­ht. Bei nicht fest­ste­hen­dem Kindesver­hält­nis (Vater­schaft­sklage kom­biniert mit Unter­halt­sklage) ist eine rück­wirk­ende Über­prü­fung von vor­sor­glich gesproch­enen Unter­halts­beiträ­gen im Endentscheid gemäss Bun­des­gericht zuläs­sig (BGE 138 III 333 E. 1.2).

Die gegen­teilige Recht­sprechung bei fest­ste­hen­dem Kindesver­hält­nis hat das Bun­des­gericht mit BGE 137 III 586 (E. 1.2) begrün­det. In der Lehre wird sie von Zogg mit überzeu­gen­der Argu­men­ta­tion kri­tisiert (Zogg, “Vor­sor­gliche” Unter­halt­szahlun­gen im Fam­i­lien­recht, in: FamPra.ch 2018, S. 96–99). Die Analo­gie zum Ver­hält­nis zwis­chen vor­sor­glichen Schei­dungs­mass­nah­men und dem Schei­dung­surteil überzeugt nicht; anders als bei der selb­ständi­gen Unter­halt­sklage betr­e­f­fen vor­sor­gliche Schei­dungs­mass­nah­men und das Schei­dung­surteil unter­schiedliche Stre­it­ge­gen­stände (ehe­lich­er Unter­halt bzw. Kindesun­ter­halt vor Schei­dung vs. nachehe­lich­er Unter­halt bzw. Kindesun­ter­halt nach Schei­dung). Bei der selb­ständi­gen Unter­halt­sklage umfasst der Stre­it­ge­gen­stand des Hauptver­fahrens dage­gen auch die im vor­sor­glichen Mass­nah­men­ver­fahren zu beurteilende Unter­haltspe­ri­ode. Dieser Unter­schied macht eine rück­wirk­ende Über­prü­fung des Mass­nahme­nentschei­ds möglich und notwendig (Zogg, a.a.O., S. 97).  Auch der Wort­laut von Art. 303 Abs. 1 ZPO, der von vor­läu­fi­gen Zahlun­gen spricht, macht klar, dass im Endentscheid rück­wirk­end über die endgültige Zus­prechung der vor­sor­glichen Unter­halts­beiträge zu befind­en ist (Zogg, a.a.O., S. 97 f.).

Die Recht­sprechung, wonach die Unter­halts­beiträge bei Vor­liegen eines Mass­nahme­nentschei­ds erst ab Recht­skraft des Endentschei­ds zuge­sprochen wer­den dür­fen, kann zudem nicht gel­ten, wenn Unter­halts­beiträge gestützt auf Art. 279 Abs. 1 ZGB rück­wirk­end für ein Jahr vor Klageer­he­bung gel­tend gemacht, vor­sor­glich aber erst ab Recht­skraft des Mass­nahme­nentschei­ds gesprochen wer­den. In diesem Fall muss das Gericht im Endentscheid zwin­gend noch über die Unter­haltspe­ri­ode bis zur Recht­skraft des Mass­nahme­nentschei­ds befind­en, anson­sten diese Unter­haltspe­ri­ode unbeurteilt bleibt.