5A_650/2022: Zustellung des Zahlungsbefehls an den Ehengatten (amtl. Publ., FR)

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_650/2022 vom 13. Oktober 2022 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage, ob Art. 153 Abs. 2 lit. b SchKG im Fall eines gemeinsam betriebenen landwirtschaftlichen Gewerbes nach Art. 40 Abs. 1 BGBB anwendbar ist, wenn es sich dabei nicht um eine Familienwohnung nach Art. 169 ZGB handelt. Das Bundesgericht verneinte das Vorliegen einer Gesetzeslücke und bestätigte, dass der Ehegatte keinen Anspruch auf die Zustellung des Zahlungsbefehls hat, wenn es sich nicht gleichzeitig um die Familienwohnung handelt.

Diesem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Am 4. Novem­ber 2019 leit­ete die Gläu­bigerin (die Bank) eine Betrei­bung auf Grundp­fand­ver­w­er­tung gegen den Schuld­ner beim Betrei­bungsamt Delé­mont ein. Der Zahlungs­be­fehl wurde am 8. Novem­ber 2019 dem Schuld­ner zugestellt. Dage­gen erhob der Schuld­ner Rechtsvorschlag am 14. Novem­ber 2019. Mit Entscheid vom 22. Sep­tem­ber 2020 wurde die pro­vi­sorische Recht­söff­nung erteilt. Die Bank stellte das Pfand­ver­w­er­tungs­begehren am 3. Novem­ber 2020.

Am 1. Okto­ber 2021 ersuchte die Ehe­frau des Schuld­ners das Betrei­bungsamt, ihr den Zahlungs­be­fehl zuzustellen, mit der Begrün­dung, dass das in Frage ste­hende Grund­stück ein land­wirtschaftlich­es Gewerbe darstelle, den sie gemein­sam betreiben. Eine Veräusserung des Grund­stücks dürfe – wie bei der Fam­i­lien­woh­nung nach Art. 169 ZGB – nur mit der Zus­tim­mung des anderen Ehe­gat­ten erfolgen.

Mit Schreiben vom 8. Okto­ber 2021 erk­lärte das Betrei­bungsamt gegenüber der Ehe­frau des Schuld­ners, dass es vorhabe, das Gesuch gutzuheis­sen und ihr den Zahlungs­be­fehl zuzustellen. Die Bank erhielt eine Kopie von diesem Schreiben.

Dage­gen erhob die Bank eine Beschw­erde nach Art. 17 SchKG, welche der Cour des pour­suites et fail­lites du Tri­bunal can­ton­al du can­ton du Jura (die Auf­sichts­be­hörde) guthiess. Die Auf­sichts­be­hörde hob die Ver­fü­gung vom 8. Okto­ber 2021 auf und wies das Betrei­bungsamt an, der Ehe­frau des Schuld­ners den Zahlungs­be­fehl nicht zuzustellen.

Dage­gen erhob die Ehe­frau des Schuld­ners am 29. August 2022 Beschw­erde (auf Deutsch) beim Bun­des­gericht. Das Bun­des­gericht verzichtete auf die Ein­hol­ung ein­er Stel­lung­nahme und wies die Beschw­erde mit Entscheid vom 13. Okto­ber 2022 ab.


Das Bun­des­gericht set­zte sich zunächst mit dem Zweck von Art. 153 Abs. 2 lit. b SchKG auseinander:

Die Betrei­bung auf Pfand­ver­w­er­tung, die in Art. 151 ff. SchKG geregelt ist, zielt auf die Ein­trei­bung ein­er Forderung ab, die durch ein Pfand gesichert ist. Art. 153 Abs. 2 lit. b SchKG sieht die Zustel­lung eines Exem­plars des Zahlungs­be­fehls nicht nur an den betriebe­nen Schuld­ner, son­dern auch an dessen Ehe­gat­ten oder einge­tra­ge­nen Part­ner vor, wenn die belastete Liegen­schaft die Fam­i­lien­woh­nung (Art. 169 ZGB) bzw. seit dem 1. Jan­u­ar 2007 die gemein­same Woh­nung (Art. 14 PartG) ist. Mit dieser Mit­teilung erwirbt dieser Dritte die Stel­lung eines Mit­be­treiben­den mit allen damit ver­bun­de­nen Recht­en, ins­beson­dere das Recht, gegen den Zahlungs­be­fehl Rechtsvorschlag zu erheben (Art. 153 Abs. 2bis SchKG), die Betrei­bungs­forderung und deren Höhe zu bestre­it­en oder sich auf das Fehlen des Pfan­drechts zu berufen. Er kann auch gel­tend machen, dass die Verpfän­dung des Ver­mö­genswerts gegen Art. 169 ZGB verstösst.

Art. 153 Abs. 2 lit. b SchKG wurde im Rah­men der SchKG-Revi­sion vom 16. Dezem­ber 1994 einge­führt, die am 1. Jan­u­ar 1997 in Kraft trat. Er war in der Botschaft des Bun­desrates nicht vorge­se­hen und wurde auf Vorschlag der stän­derätlichen Kom­mis­sion in das Gesetz aufgenom­men, dem bei­de Räte zus­timmten. Damit sollte dem am 1. Jan­u­ar 1988 in Kraft getrete­nen Art. 169 ZGB Rech­nung getra­gen und der Schutz der Fam­i­lien­woh­nung auf die Zwangsver­w­er­tung des Grund­stücks aus­gedehnt wer­den. Art. 169 ZGB ist eine Folge des vom Geset­zge­ber im Fam­i­lien­recht einge­führten Schutzes des Ehe­gat­ten vor Ver­fü­gun­gen des anderen Ehe­gat­ten über die Fam­i­lien­woh­nung (E. 3.2.1).


Sodann set­zte sich das Bun­des­gericht mit Art. 40 BGBB auseinander:

Gemäss Art. 40 Abs. 1 BGBB kann der Eigen­tümer ein land­wirtschaftlich­es Gewerbe, das er zusam­men mit seinem Ehe­gat­ten bewirtschaftet oder einen Miteigen­tum­san­teil daran nur mit Zus­tim­mung des Ehe­gat­ten veräussern. Kann er diese Zus­tim­mung nicht ein­holen oder wird sie ihm ohne trifti­gen Grund ver­weigert, so kann er den Richter anrufen (Abs. 2). Zum Schutz der Woh­nung der Fam­i­lie bleibt Art. 169 ZGB vor­be­hal­ten (Abs. 3). Art. 40 Abs. 3 BGBB behält diese Bes­tim­mung nur vor, um die Zus­tim­mung des Ehe­gat­ten auch für die Veräusserung eines land­wirtschaftlichen Gewerbes erforder­lich zu machen, wenn die Voraus­set­zung der gemein­samen Bewirtschaf­tung im Sinne von Art. 40 Abs. 1 BGBB nicht erfüllt ist und die Fam­i­lie Gefahr läuft, ihre Woh­nung zu ver­lieren. Wenn der Betrieb nicht gemein­sam geführt wird, kann Art. 169 ZGB direkt angewen­det wer­den, wenn sich die Fam­i­lien­woh­nung in den Gebäu­den des land­wirtschaftlichen Betriebs befindet.

Art. 40 BGBB wurde einge­führt, um die Schwächung der Rechtsstel­lung des Ehe­gat­ten im Inter­esse der agrar­poli­tis­chen Ziele des BGBB auszu­gle­ichen, da unter der Herrschaft des alten Rechts der Ehe­gat­te ein Vorkauf­s­recht hat­te, während das BGBB neu aus­drück­lich vor­sieht, dass die Veräusserung an den Ehe­gat­ten einen Fall des Vorkaufs zugun­sten eines Eltern­teils darstellt, der selb­st i.S.v. Art. 42 BGBB bewirtschaften will (E. 3.2.2).


Das Bun­des­gericht kam damit zu fol­gen­dem Schluss:

Art. 153 Abs. 2 lit. b SchKG ver­weist nur auf Art. 169 ZGB und Art. 14 PartG, die sich auf den Schutz der Fam­i­lien­woh­nung oder der gemein­samen Woh­nung beziehen, ohne Art. 40 Abs. 1 BGBB zu erwäh­nen, der sich auf die Veräusserung des von den Ehe­gat­ten gemein­sam bewirtschafteten land­wirtschaftlichen Gewerbes bezieht. Dieser Auss­chluss beruht nicht auf einem offen­sichtlichen Verse­hen des Geset­zge­bers, son­dern vielmehr auf dem Willen, den Ehe­gat­ten des Eigen­tümers des von den Ehe­gat­ten gemein­sam bewirtschafteten land­wirtschaftlichen Gewerbes nicht in den Genuss der für die Fam­i­lien­woh­nung gel­tenden Regelung kom­men zu lassen. Dies stellt keine echte Geset­zes­lücke dar. Im Gegen­teil war es die Absicht des Geset­zge­bers, alle anderen For­men der Inter­es­sen­ge­mein­schaft zwis­chen Ehe­gat­ten, ins­beson­dere wirtschaftlich­er Art, als die in der Fam­i­lien­woh­nung verkör­perte, vom Anwen­dungs­bere­ich des Art. 153 Abs. 2 Bst. b SchKG auszuschliessen, da die Woh­nung für eine Fam­i­lie von zen­traler und lebenswichtiger Bedeu­tung ist. Das Bun­des­gericht erwog schliesslich, dass man selb­st im Falle ein­er unecht­en Geset­zes­lücke zum sel­ben Schluss kom­men würde, da die Anwen­dung von Art. 153 Abs. 2 lit. b SchKG wed­er rechtsmiss­bräuch­lich ist noch die Bun­desver­fas­sung ver­let­zt (E. 3.3).