5A_816/2022: Gerichtsentscheid mit Bruttolohnforderung als definitiver Rechtsöffnungstitel (FR; amtl. Publ.)

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_816/2022 vom 29. März 2023 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob die definitive Rechtsöffnung für die im Entscheid zugesprochenen Bruttolohnforderungen unter Abzug der Sozialversicherungsbeiträge zu erteilen ist. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass ein solcher Entscheid einen definitiven Rechtsöffnungstitel für die Bruttolohnforderung – unter Abzug der Sozialversicherungsbeiträge – darstellt, dass der Arbeitgeber jedoch im Rechtsöffnungsverfahren i.S. einer Einwendung (Art. 81 Abs. 1 SchKG) vorbringen kann, dass die definitive Rechtsöffnung nur für die Nettolohnforderungen zu erteilen ist. Dies setzt allerdings voraus, dass der Arbeitgeber den Bestand und Umfang der zu entrichtenden Sozialversicherungs- und gesetzlichen Beiträge mit Urkunden nachweist. Der Nachweis der effektiven Zahlung ist dagegen nicht erforderlich.


Diesem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Mit Entscheid vom 8. Feb­ru­ar 2016 verurteilte das Gen­fer Arbeits­gericht A und B sol­i­darisch, der Arbeit­nehmerin C diverse Brut­to­be­träge zzgl. Zins zu 5% zu bezahlen. Mit Entscheid vom 6. Jan­u­ar 2017 hob das Oberg­ericht des Kan­tons Genf den Entscheid vom 8. Feb­ru­ar 2016 teil­weise auf und verurteilte A und B, C den Brut­to­be­trag von CHF 52’640.10 zzgl. Zins zu 5%, den Brut­to­be­trag von CHF 22’107.40 zzgl. Zins zu 5% sowie den Brut­to­be­trag von CHF 85’951.80 zzgl. Zins zu 5%, unter Abzug eines Net­to­be­trags von CHF 20’400, zu bezahlen. Aus diesem Entscheid geht her­vor, dass sich der Net­to­be­trag aus diversen Forderun­gen (Ferien­auszahlung, usw.) zusam­menset­zt, und dass die Schuld­ner Sozialver­sicherungs­be­träge (inkl. Arbeit­ge­ber­beiträ­gen) von ins­ge­samt CHF 23’759.85 an die Sozialver­sicherun­gen bezahlt hat­ten, d.h. CHF 208.40 pro Monat auf den Brut­tolohn der Arbeit­nehmerin, sowie diverse Beträge für die Quel­len­s­teuer entrichtet hatten.

Im Rah­men des Recht­söff­nungsver­fahrens gegen A beantragte C die Besei­t­i­gung des Rechtsvorschlags für CHF 52’640.10 zzgl. Zins zu 5%, CHF 22’107.40 (brut­to) zzgl. Zins zu 5% sowie CHF 85’951.80 (brut­to) zzgl. Zins zu 5%. Mit Entscheid vom 20. Mai 2022 erteilte das Recht­söff­nungs­gericht die defin­i­tive Recht­söff­nung für die genan­nten Beträge.

Mit Entscheid vom 9. Sep­tem­ber 2022 hiess das Oberg­ericht des Kan­tons Genf die Beschw­erde von A gut und erteilte die defin­i­tive Recht­söff­nung für die in Betrei­bung geset­zten Forderun­gen, unter Abzug von CHF 20’400.

Dage­gen erhob A Beschw­erde beim Bun­des­gericht, welch­es die Beschw­erde guthiess und die Sache an die Vorin­stanz zur Neuentschei­dung im Sinne der Erwä­gun­gen zurückwies.


Entscheid mit Brut­tolohn­forderung als defin­i­tiv­er Rechtsöffnungstitel?

Zunächst set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage auseinan­der, ob ein Entscheid, mit welchem eine Brut­tolohn­forderung zuge­sprochen wird, einen defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel darstellt, und ggf., ob die defin­i­tive Recht­söff­nung für den Net­to- oder den Brut­tolohn zu erteilen ist (E. 6).

Das Bun­des­gericht stellte fest, dass diese Frage umstrit­ten ist. In einem Entscheid von 2002 entsch­ied das Bun­des­gericht, dass ein Entscheid, mit welchem eine Brut­tolohn­forderung unter Abzug der Sozialver­sicherungs­beiträge zuge­sprochen wird, einen defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel darstellt (E. 6.2.2).

Das Bun­des­gericht erwog, dass diese Lösung gerecht­fer­tigt ist, da der Arbeit­ge­ber zum Zeit­punkt des Urteils in der Haupt­sache diese Beiträge noch nicht bezahlt hat. Wenn der Richter in der Haupt­sache dem Arbeit­nehmer einen Brut­tolohn zus­pricht und lediglich die Sozialver­sicherungs- und geset­zlichen Beiträge vor­be­hält, die noch nicht bezahlt wur­den, darf der Recht­söff­nungsrichter die Höhe der zuge­sproch­enen Forderung nicht ändern (E. 6.2.2).

Im Übri­gen stellen – wirtschaftlich betra­chtet – diese Sozialver­sicherungs­beiträge einen Lohnbe­standteil dar; im Prinzip schuldet der Arbeit­ge­ber dem Arbeit­nehmer einen Brut­tolohn (mit weni­gen Aus­nah­men). Die Erteilung der defin­i­tiv­en Recht­söff­nung für eine Net­tolohn­forderung stellt damit eine Ein­wen­dung i.S.v. Art. 81 Abs. 1 SchKG dar, die vom Arbeit­ge­ber mit Urkun­den nachzuweisen ist. Dies gilt sowohl für die Arbeit­nehmer- als auch für die Arbeit­ge­ber­beiträge. Es obliegt nicht dem Recht­söff­nungsrichter, eine zuge­sproch­ene Brut­tolohn­forderung abzuän­dern, dies ins­beson­dere vor dem Hin­ter­grund, dass der Richter in der Haupt­sache eine Net­tolohn­forderung hätte zus­prechen kön­nen (E. 6.2.2).


Ein­we­dung der geschulde­ten Sozialver­sicherungs- und geset­zlichen Beiträge und deren Nachweis

In der Folge set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage auseinan­der, ob der Arbeit­ge­ber gegen die in Betrei­bung geset­zte Brut­tolohn­forderung ein­wen­den (Art. 81 Abs. 1 SchKG) darf, dass er dem Arbeit­nehmer nur den Net­tolohn schuldet, und ggf., ob er die effek­tive Begle­ichung der Sozialver­sicherungs­beiträge mit Urkun­den bele­gen muss (E. 6.3).

Das Bun­des­gericht erwog, dass der betriebene Arbeit­ge­ber sich i.S. ein­er Ein­wen­dung gemäss Art. 81 Abs. 1 SchKG auf seine Pflicht berufen darf, die Sozialver­sicherungs­beiträge, die er schuldet, bezahlen zu müssen. Dabei muss der Arbeit­ge­ber diese Pflicht und deren Umfang mit Urkun­den nach­weisen. Dage­gen muss er nicht nach­weisen, dass der diese Beträge effek­tiv beglichen hat, da die Schuld, für welche der Arbeit­ge­ber haftet, zeit­gle­ich mit der Lohn­forderung bzw. sog­ar nachträglich fäl­lig wird. Das Bun­des­gericht räumte ein, dass der Arbeit­nehmer dadurch nicht sich­er­stellen kann, dass die Beiträge auch effek­tiv bezahlt wer­den. Der Arbeit­nehmer befind­et sich jedoch in der­sel­ben Sit­u­a­tion, wie wenn der Arbeit­ge­ber den geschulde­ten Lohn an den Arbeit­nehmer ver­trags­gemäss und frist­gerecht (ohne Zwangsvoll­streck­ung) bezahlt hätte (E. 6.3.2).

Erbringt der Arbeit­ge­ber diesen Nach­weis nicht, ist die defin­i­tive Recht­söff­nung im Umfang der zuge­sproch­enen Brut­tolohn­forderung zu erteilen (E.6.3.3):

«Ain­si, le juge­ment défini­tif et exé­cu­toire qui con­damne un employeur à pay­er un salaire brut à son employé, sous déduc­tion des charges sociales à la charge de ce dernier, con­stitue un titre de main­levée au sens de l’art. 80 al. 1 LP. L’em­ployeur peut toute­fois soulever à titre d’ex­cep­tion au sens de l’art. 81 al. 1 LP son oblig­a­tion de vers­er ces coti­sa­tions. Il lui incombe alors de prou­ver par titre l’é­ten­due de son oblig­a­tion, sans qu’il ait toute­fois à se pré­val­oir d’un paiement effec­tif. A défaut, le juge de la main­levée lève l’op­po­si­tion à con­cur­rence du salaire brut; il ne lui appar­tient pas de revoir le fond du juge­ment en déter­mi­nant lui-même le salaire net.»