5A_611/2023: Wirkungen eines verfrühten Verwertungsbegehrens (amtl. Publ.)

In diesem zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_611/2023 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob eine Amtshandlung ungültig ist, wenn sie verfrüht und damit in Verletzung von Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR erfolgt ist. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass es sich bei Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR um eine Ordnungsvorschrift handelt, deren Missachtung ohne Konsequenzen bleibt, es sei denn, das Betreibungsamt hätte das Betreibungsverfahren gestützt auf ein vorzeitiges Fortsetzungs- oder Verwertungsbegehren selbst frühzeitig vorangetrieben.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Gegen A (Schuld­ner) leit­ete B (Gläu­biger) eine Betrei­bung ein. Der Zahlungs­be­fehl wurde vom Betrei­bungsamt Zürich 1 am 30. Juni 2020 entsprechend aus­gestellt. Am 16. Juni 2021 vol­l­zog das Betrei­bungsamt die Pfän­dung in Abwe­sen­heit des Schuld­ners. Die am 18. August 2021 aus­gestellte Pfän­dung­surkunde wurde dessen Vertreter am 23. August 2021 recht­shil­feweise durch das Betrei­bungsamt Lugano zugestellt. Mit Schreiben vom 30. August 2021 teilte das Betrei­bungsamt Zürich 1 dem Vertreter des Schuld­ners mit, dass der Gläu­biger die Ver­w­er­tung der gepfän­de­ten Ver­mö­genswerte ver­langt habe. Die recht­shil­feweise Zustel­lung dieses Schreibens durch das Betrei­bungsamt Lugano erfol­gte am 18. Novem­ber 2022.

Gegen die Mit­teilung des Ver­w­er­tungs­begehrens erhob A mit Eingabe vom 18. Novem­ber 2022 SchKG-Beschw­erde beim Bezirks­gericht Zürich. Zur Begrün­dung führte er u.a. aus, dass B das Ver­w­er­tungs­begehren zu früh gestellt habe. Es sei deshalb unwirk­sam und alle daran anschliessenden Betrei­bung­shand­lun­gen seien nichtig. Mit Beschluss vom 21. Mai 2023 wies das Bezirks­gericht Zürich die Beschw­erde ab, soweit es darauf ein­trat. A zog die Sache an das Oberg­ericht des Kan­tons Zürich weit­er, welch­es die Beschw­erde mit Entscheid vom 27. Juli 2023 abwies.

Dage­gen erhob A mit Eingabe vom 25. August 2023 Beschw­erde in Zivil­sachen beim Bun­des­gericht. Mit Ver­fü­gung vom 20. Sep­tem­ber 2023 gewährte das Bun­des­gericht der Beschw­erde die auf­schiebende Wirkung. Mit Entscheid vom 7. März 2024 wies das Bun­des­gericht die Beschw­erde ab.


Zeit­punkt des Ver­w­er­tungs­begehrens und des Pfändungsvollzugs

Zunächst rief das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zum Zeit­punkt des Ver­w­er­tungs­begehrens und des Pfän­dungsvol­lzugs in Erin­nerung (E. 3.1):

  • Ein Gläu­biger kann die Ver­w­er­tung der gepfän­de­ten beweglichen Ver­mö­gensstücke sowie der Forderun­gen und der anderen Rechte früh­estens einen Monat und spätestens ein Jahr, diejenige der gepfän­de­ten Grund­stücke früh­estens sechs Monate und spätestens zwei Jahre nach der Pfän­dung ver­lan­gen (Art. 116 Abs. 1 SchKG).
  • Sowohl die Min­i­mal- als auch die Max­i­mal­fris­ten begin­nen mit dem Vol­lzug der Pfän­dung. War der Schuld­ner bei der Pfän­dung wed­er anwe­send noch vertreten, so erfol­gt der Vol­lzug erst mit der Zustel­lung der Pfän­dung­surkunde an ihn.
  • Im Gegen­satz zur Max­i­mal­frist hat der Geset­zge­ber die Min­i­mal­frist in Art. 116 Abs. 1 SchKG auss­chliesslich im Inter­esse des Schuld­ners vorge­se­hen, um dem Schuld­ner die Möglichkeit zu geben, den betreiben­den Gläu­biger aus anderen Quellen zu befriedi­gen und so die dro­hende Ver­w­er­tung abzuwenden.

Das Bun­des­gericht erwog, dass die Rah­men­frist, innert der das Ver­w­er­tungs­begehren gestellt wer­den kann, im vor­liegen­den Fall — und ent­ge­gen dem in der Pfän­dung­surkunde vom 18. August 2021 angegebe­nen Zeitrah­men (24. Dezem­ber 2020 bis 24. Novem­ber 2021) — erst am 24. Sep­tem­ber 2021 zu laufen begann (Art. 116 Abs. 1 SchKG i.V.m. Art. 31 SchKG und Art. 142 Abs. 1 und 2 ZPO) und der Betrei­bungs­gläu­biger sein Ver­w­er­tungs­begehren somit vor Ablauf der ein­monati­gen Warte­frist von Art. 116 Abs. 1 SchKG gestellt hat (E. 3.1).


Wirkun­gen eines ver­führten Verwertungsbegehrens

In der Folge set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage nach den Wirkun­gen eines ver­füht­en Ver­w­er­tungs­begehrens auseinan­der (E. 3.2):

  • Fort­set­zungs- und Ver­w­er­tungs­begehren, deren Stel­lung im Zeit­punkt, an welchem sie beim Betrei­bungsamt ein­lan­gen, geset­zlich noch nicht zuläs­sig ist, wer­den nicht einge­tra­gen, son­dern dem Ein­sender mit der Bemerkung: «ver­früht, erst am… zuläs­sig» zurück­geschickt (Art. 9 Abs. 2 VFRR).
  • Ausgenom­men sind solche Begehren, die höch­stens zwei Tage zu früh ein­lan­gen: Diese wer­den gle­ich­wohl ent­ge­gengenom­men und, wie die andern, in der Rei­hen­folge des Ein­gangs einge­tra­gen. In diesem Fall wird dem Ein­gangs­da­tum das Datum des Tages beige­fügt, von dem an sie zuläs­sig sind und als gestellt gel­ten (Art. 9 Abs. 3 VFRR).
  • Um die mit Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR angestrebte rechts­gle­iche Behand­lung ver­frühter Fort­set­zungs- und Ver­w­er­tungs­begehren zu gewährleis­ten, ist den kan­tonalen Auf­sichts­be­hör­den zu empfehlen, den Betrei­bungsämtern die vorste­hend dargelegten Grund­sätze in geeigneter Form in Erin­nerung zu rufen.

In diesem Zusam­men­hang erwog das Bun­des­gericht, dass ein ver­früht gestelltes Ver­w­er­tungs­begehren insofern unwirk­sam ist, “als das Betrei­bungsamt seit je her angewiesen ist, dem Gläu­biger ein mehr als zwei Tage zu früh eingetrof­fenes Ver­w­er­tungs­begehren zurück­zusenden”. Allerd­ings ist gemäss Bun­des­gericht die Min­i­mal­frist in Art. 116 Abs. 1 SchKG für den Schuld­ner nicht hin­sichtlich des Zeit­punk­ts des Ver­w­er­tungs­begehrens, son­dern des weit­eren Fort­gangs des Betrei­bungsver­fahrens von zen­traler Bedeu­tung: Weist das Betrei­bungsamt ein mehr als zwei Tage zu früh eingetrof­fenes Ver­w­er­tungs­begehren vorschriftswidrig nicht zurück, son­dern leis­tet es ihm bloss einst­weilen keine Folge, bis es gestellt wer­den kön­nte, beste­ht kein Anlass, die fol­gen­den Amt­shand­lun­gen als ungültig zu betra­cht­en. Bei Art. 9 Abs. 2 und 3 VFRR han­delt es sich fol­glich um eine blosse Ord­nungsvorschrift, deren Mis­sach­tung keinen Ein­fluss auf die Gültigkeit der nach­fol­gen­den Amt­shand­lun­gen hat, es sei denn, das Betrei­bungsamt hätte das Betrei­bungsver­fahren gestützt auf ein vorzeit­iges Fort­set­zungs- oder Ver­w­er­tungs­begehren selb­st frühzeit­ig vor­angetrieben (E. 3.3).

Gemäss Bun­des­gericht ver­hält sich diese Sit­u­a­tion näm­lich nicht anders, als im Falle eines vorzeit­i­gen Fort­set­zungs­begehrens (Art. 88 SchKG): Gemäss bun­des­gerichtlich­er Recht­sprechung liegt keine Ver­let­zung von Art. 159 SchKG vor, wenn das Betrei­bungsamt ein ver­früht­es Fort­set­zungs­begehren zwar nicht zurück­gewiesen, aber diesem immer­hin einst­weilen keine Folge geleis­tet hat, und die zur geset­zlichen Zeit erfol­gte Konkur­san­dro­hung (auch auf rechtzeit­ige Beschw­erde nach Art. 17 SchKG hin) ist nicht aufzuheben (E. 3.3).

Im vor­liegen­den Fall verneinte das Bun­des­gericht eine Ver­let­zung von Art. 116 Abs. 1 SchKG, da das Betrei­bungsamt nach Ein­gang des Ver­w­er­tungs­begehrens über ein Jahr zuge­wartet hat­te und dem Schuld­ner statt der geset­zlichen Schon­frist von einem Monat ca. 14 Monate zur Ver­fü­gung standen, um die in Betrei­bung geset­zte Forderung samt Zin­sen und Kosten “doch noch aus eigen­em Antrieb zu begle­ichen” (E. 3.3).