1C_713/2024: Massgebender Zeitpunkt der Zustellung einer Verfügung nach VwVG; Beginn des Fristenlaufs für die Beschwerde (amtl. Publ.)

Im zur Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil 1C_713/2024 vom 5. März 2025 aus dem Bere­ich des öffentlichen Per­son­al­rechts befasste sich das Bun­des­gericht mit der Frage des Frist­be­ginns für das Rechtsmit­tel, wenn die rel­e­vante anfecht­bare Ver­fü­gung sowohl der Partei per­sön­lich als auch deren Rechtsvertre­tung zugestellt wird und die Partei selb­st diese zeitlich vorher in Emp­fang nimmt und ihrer Rechtsvertre­tung übermittelt.

Im ange­focht­e­nen Urteil ging es um eine Beschw­erde an das Bun­desver­wal­tungs­gericht gegen eine vom Bun­de­samt für Sozialver­sicherun­gen (BSV; Beschw­erdegeg­ner­in) vorgenommene Lohnkürzung während der krankheits­be­d­ingten Arbeit­sun­fähigkeit ein­er beim BSV angestell­ten Juristin (Beschw­erde­führerin).

Strit­tig war vor Bun­des­gericht, ob die gegen die Ver­fü­gung des BSV erhobene Beschw­erde ans Bun­desver­wal­tungs­gericht ver­spätet ein­gere­icht wor­den war (E. 3). Das Bun­desver­wal­tungs­gericht ver­trat diese Auf­fas­sung und war dem­nach nicht auf die Beschw­erde einge­treten. Begrün­det habe dies das Bun­desver­wal­tungs­gericht damit, dass die Beschw­erde­führerin die ihr per­sön­lich zugestellte Ver­fü­gung in Emp­fang genom­men und diese zwei Tage später ihrer Rechtsvertreterin per E‑Mail über­mit­telt habe. Ab diesem Zeit­punkt sei die Ver­fü­gung im Macht­bere­ich der Rechtsvertreterin und damit dieser eröffnet gewe­sen, weshalb die Beschw­erde ver­spätet gewe­sen sei (E. 3.1). Die Beschw­erde­führerin führte dage­gen an, dass die kor­rek­te Eröff­nung der Ver­fü­gung an die Rechtsvertreterin, welche erst drei Tage nach der Über­mit­tlung der Ver­fü­gung per E‑Mail erfol­gte, für den Frist­be­ginn mass­gebend sei, weshalb die Beschw­erde rechtzeit­ig ein­gere­icht wor­den sei (E. 3.2).

Das Bun­des­gericht führte zum Frist­be­ginn in seinen Erwä­gun­gen aus, dass eine Frist, die sich nach Tagen  berechne und ein­er Mit­teilung an die Parteien bedürfe, am auf die Mit­teilung fol­gen­den Tag zu laufen beginne (Art. 20 Abs. 1 VwVG). Die Behörde eröffne Ver­fü­gun­gen den Parteien schriftlich (Art. 34 Abs. 1 VwVG) und diese ent­falte ihre Rechtswirkun­gen vom Zeit­punkt der ord­nungs­gemässen Zustel­lung, wom­it auch die Rechtsmit­tel­fris­ten zu laufen begin­nen (E. 4.1). Nach ständi­ger bun­des­gerichtlich­er Recht­sprechung gelte die Zustel­lung als erfol­gt, wenn die Ver­fü­gung in den Macht­bere­ich der Adres­satin gelange und sie demzu­folge von ihr Ken­nt­nis nehmen könne. Allerd­ings genüge dies nicht, wenn beson­dere Zustel­lvorschriften bestün­den (wie z.B. gemäss Art. 85 Abs. 2 StPO; m.w.Verw. E. 4.1).

Sei eine Partei ord­nungs­gemäss vertreten, so das Bun­des­gericht, habe die ver­fü­gende Behörde Mit­teilun­gen und Ver­fü­gun­gen der bevollmächtigten Per­son zuzustellen (Art. 11 Abs. 3 VwVG). Diese Bes­tim­mung sei nicht bloss eine Ord­nungsvorschrift. Sie diene der Rechtssicher­heit, um klarzustellen, an wen Mit­teilun­gen zu erfol­gen haben und welch­es die für einen Fris­ten­lauf mass­geben­den Mit­teilun­gen sein sollen (E. 4.2). Die Regel, wonach Mit­teilun­gen bei beste­hen­der Rechtsvertre­tung auss­chliesslich an ebendiese zugestellt wer­den, sei auch in Art. 137 ZPO und Art. 87 Abs. 3 StPO enthal­ten (gemäss bun­des­gerichtlich­er Recht­sprechung zwin­gende Nor­men; m.w.Verw. E. 4.2).

Weit­er, so das Bun­des­gericht, stelle die Zustel­lung ein­er beschw­erde­fähi­gen Ver­fü­gung an die Partei per­sön­lich anstatt an ihre Rechtsvertre­tung eine man­gel­hafte Eröff­nung dar (E. 4.3). Dies bedeute indes nicht, dass die Rechtsmit­tel­frist in keinem Fall anfange zu laufen. Zwar dürften ein­er Partei aus ein­er man­gel­haften Eröff­nung keine Nachteile erwach­sen.  Wer mit zumut­barem Aufwand die Fol­gen ein­er man­gel­haften Eröff­nung abwen­den könne, könne sich jedoch nicht darauf berufen. Die Rechtsmit­tel­frist beginne somit auch bei man­gel­hafter Eröff­nung ab jen­em Zeit­punkt zu laufen, in welchem eine Partei nach dem Grund­satz von Treu und Glauben im Besitz aller für die erfol­gre­iche Wahrung ihrer Rechte wesentlichen Ele­mente sei (vgl. BGE 144 IV 57 E. 2.3.2; 143 IV 40 E. 3.4.2). Wenn die Rechtsvertre­tung Ken­nt­nis von einem Eröff­nungs­man­gel habe, müsse sie innert nüt­zlich­er Frist die ord­nungs­gemässe Eröff­nung ver­lan­gen oder das Rechtsmit­tel ein­le­gen (E. 4.3).

Werde die Ver­fü­gung sowohl der Partei selb­st wie auch ihrer Rechtsvertre­tung zugestellt, sei gemäss Lehre einzig der Zeit­punkt der Eröff­nung an die Rechtsvertre­tung mass­gebend für die Aus­lö­sung der Beschw­erde­frist (E. 4.4).

Gemäss Bun­des­gericht habe vor­liegend das BSV die betr­e­f­fende Ver­fü­gung gle­ichzeit­ig der Beschw­erde­führerin per­sön­lich und ihrer dama­li­gen Rechtsvertreterin mit eingeschrieben­er Post zugestellt, wom­it es  Art. 11 Abs. 3 VwVG kor­rekt ange­wandt habe (E. 5.1). Was den zeitlichen Ablauf beträfe, erwog das Bun­des­gericht, dass die Beschw­erde­führerin unbe­strit­ten­er­massen die Ver­fü­gung am Sam­stag, 25. Mai 2024 ent­ge­gen genom­men und am Mon­tag, 27. Mai 2024 ihrer Rechtsvertreterin per E‑Mail über­mit­telt habe. Die Rechtsvertreterin ihrer­seits habe die an sie selb­st adressierte Ver­fü­gung am Don­ner­stag, 30. Mai 2024 in Emp­fang genom­men. Bei dieser Sach­lage stelle die ord­nungs­gemässe Zustel­lung an die Rechtsvertreterin der Beschw­erde­führerin das fris­taus­lösende Ereig­nis dar, und zwar unab­hängig davon, ob die Ver­fü­gung gle­ichzeit­ig auch noch der Beschw­erde­führerin per­sön­lich zugestellt wor­den sei.

Weit­er erwog das Bun­des­gericht, dass Art. 11 Abs. 3 VwVG genau dazu diene, im Sinne der Rechtssicher­heit klarzustellen, welche die für einen Fris­ten­lauf mass­gebende Mit­teilung sein soll. Sei eine eine geset­zeskon­forme, kor­rek­te Eröff­nung der Ver­fü­gung an die Rechtsvertre­tung erfol­gt, sei eine zusät­zliche — vorgängige oder nachträgliche — Zustel­lung an die Partei nicht rel­e­vant, um die Beschw­erde­frist zu bes­tim­men. Die Auf­fas­sung der Vorin­stanz, das fris­taus­lösende Ereig­nis bere­its in der Über­mit­tlung der Ver­fü­gung durch die Beschw­erde­führerin an ihre Rechtsvertreterin per E‑Mail zu sehen, würde gemäss Bun­des­gericht die durch obge­nan­nte Bes­tim­mung etablierte Rechtssicher­heit in Frage stellen und let­ztlich diesen Zweck vere­it­eln (E. 5.1).

Die Beschw­erde­frist habe somit am 31. Mai 2024 zu laufen begonnen und am Sam­stag, 29. Juni 2024, bzw. am näch­st­fol­gen­den Werk­tag (Art. 20 Abs. 3 VwVG), geen­det. Somit habe die Beschw­erde­frist am Mon­tag, 1. Juli 2024 geen­det und die Beschw­erde an die Vorin­stanz sei ent­ge­gen deren Auf­fas­sung frist­gerecht ein­gere­icht wor­den (E. 5.1).

Selb­st wenn man wie die Vorin­stanz davon aus­ge­hen würde, dass die Eröff­nung der Ver­fü­gung an die Beschw­erde­führerin rel­e­vant und diese man­gel­haft erfol­gt sei, käme man zum gle­ichen Ergeb­nis, erwog das Bun­des­gericht weit­er: Zwar habe die Rechtsvertreterin die betr­e­f­fende Ver­fü­gung von ihrer Kli­entin per E‑Mail am 27. Mai 2024 erhal­ten und somit ab diesem Zeit­punkt Ken­nt­nis von der Ver­fü­gung gehabt. Da die Rechtsvertreterin der Ver­fü­gung aber habe ent­nehmen kön­nen, dass diese ohne­hin auch an sie selb­st und zwar eben­falls per eingeschrieben­em Brief versendet wor­den sei und somit eine geset­zeskon­forme Eröff­nung in Aus­sicht stand, habe für sie fol­glich keine Ver­an­las­sung bestanden, sich beim BSV zu melden, um eine män­gel­freie Zustel­lung zu ver­lan­gen. Bei dieser Sach­lage habe sie sich ohne Ver­let­zung des Grund­satzes von Treu und Glauben darauf ver­lassen dür­fen, dass die Beschw­erde­in­stanz bei der Frist­berech­nung auf die geset­zeskon­forme, kor­rek­te Eröff­nung abstellen würde. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Rechtsvertreterin noch weit­ere drei Tage zuwartete, bevor sie das an sie adressierte Exem­plar der Ver­fü­gung in Emp­fang nahm, da keine Verpflich­tung beste­he, eine eingeschriebene Sendung vor dem let­zten Tag abzu­holen (E. 5.2).

Zusam­menge­fasst, schloss das Bun­des­gericht, habe die Vorin­stanz Bun­desrecht ver­let­zt, indem sie nicht auf die Beschw­erde einge­treten sei (E. 5.3). Dem­nach hiess das Bun­des­gericht die Beschw­erde gut und wies die Sache zur Prü­fung der weit­eren Ein­tretensvo­raus­set­zun­gen und, gegebe­nen­falls, zur materiellen Behand­lung an die Vorin­stanz zurück (E. 6.).