4A_435/2024: Nur eine formell rechtskräftige Sicherstellungsverfügung berechtigt zur definitiven Rechtsöffnung (amtl. Publ.)

In diesem zur Publikation vorgesehenen Urteil 4A_435/2024 vom 4. Februar 2025 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob die definitive Rechtsöffnung im Rahmen einer Betreibung auf Sicherheitsleistung aufgrund einer noch nicht rechtskräftigen Sicherstellungsverfügung erteilt werden darf. Das Bundesgericht erwog, dass die Sicherstellungsverfügung nicht nur vollstreckbar, sondern auch rechtskräftig sein muss, weshalb es das Rechtsöffnungsgesuch der Gläubigerin mangels formell rechtskräftiger Sicherstellungsverfügung im konkreten Fall abwies.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Mit Zahlungs­be­fehl des Betrei­bungsamts Region Solothurn vom 14. Novem­ber 2023 leit­ete die Schweiz­erische Eidgenossen­schaft (Gläu­bigerin, Beschw­erdegeg­ner­in) gegen A (Schuld­ner, Beschw­erde­führer) eine Betrei­bung auf Sicher­heit­sleis­tung ein. Als Forderungs­grund nan­nte sie die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung vom 9. Novem­ber 2023, die auf CHF 1’065’000 neb­st Zins zu 4 % seit 10. Novem­ber 2023 lautet. Dage­gen erhob der Schuld­ner Rechtsvorschlag.

Am 12. Dezem­ber 2023 ersuchte die Gläu­bigerin das Richter­amt Solothurn-Lebern um Recht­söff­nung für Forderung, Zin­sen, Kosten und eine angemessene Umtrieb­sentschädi­gung. Am 12. März 2024 wies das Richter­amt das Gesuch kostenpflichtig ab.

Die dage­gen gerichtete Beschw­erde der Gläu­bigerin hiess das Oberg­ericht des Kan­tons Solothurn am 18. Juni 2024 gut. Es hob das Urteil des Richter­amts auf und erteilte defin­i­tive Recht­söff­nung in der Betrei­bung auf Sicher­heit­sleis­tung des Betrei­bungsamts Region Solothurn im beantragten Umfang.

Dage­gen erhob der Schuld­ner Beschw­erde in Zivil­sachen beim Bun­des­gericht. Mit Urteil vom 4. Feb­ru­ar 2025 hiess das Bun­des­gericht die Beschw­erde gut, hob das Urteil des Oberg­erichts des Kan­tons Solothurn auf und wies das Recht­söff­nungs­ge­such der Beschw­erdegeg­ner­in kostenpflichtig ab. Die Sache wurde zu neuer Entschei­dung über die Kosten- und Entschädi­gungs­fol­gen des kan­tonalen Ver­fahrens an das Oberg­ericht des Kan­tons Solothurn zurückgewiesen.


Defin­i­tiv­er Recht­söff­nungsti­tel im All­ge­meinen

Zunächst set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage des Recht­söff­nungsti­tels bei ein­er Sich­er­stel­lungsver­fü­gung im Steuer­recht auseinander.

Das Bun­des­gericht rief zunächst die all­ge­meinen Grund­sätze zum defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel in Erin­nerung (Art. 80 SchKG). Ins­beson­dere genügt die Voll­streck­barkeit der Ver­fü­gung für die defin­i­tive Recht­söff­nung, ohne dass Recht­skraft vor­liegen muss, wobei eine Ver­fü­gung voll­streck­bar ist, wenn sie mit keinem ordentlichen Rechtsmit­tel mehr anfecht­bar ist, wenn nur noch ein Rechtsmit­tel zur Ver­fü­gung ste­ht, das keine auf­schiebende Wirkung hat, oder wenn dem Rechtsmit­tel die auf­schiebende Wirkung ent­zo­gen wor­den ist (E. 2.1.1).


Defin­i­tive Recht­söff­nung im Steuer­recht nur gestützt auf eine Veranlagungsverfügung 

Sodann set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage der Recht­söff­nung und der Voll­streck­barkeit ein­er Ver­fü­gung im Steuer­recht auseinan­der. Es wies darauf hin, dass im Steuer­recht die Steuer­forderung erst dann voll­streck­bar ist, wenn die Ver­an­la­gungsver­fü­gung, mit der die Ver­an­la­gungs­be­hörde die Steuer­forderung des Gemein­we­sens gegenüber dem Steuerpflichti­gen für eine bes­timmte Steuer­pe­ri­ode betragsmäs­sig verbindlich fes­tlegt, vor­liegt (Art. 131 DBG; Art. 41 Abs. 3 und Art. 46 Abs. 2 StHG). Die defin­i­tive Recht­söff­nung gestützt auf eine Ver­an­la­gungsver­fü­gung wird nur erteilt, wenn die Ver­an­la­gungsver­fü­gung nicht nur voll­streck­bar, son­dern auch recht­skräftig ist (E. 2.1.2):

«Was die direk­te Bun­dess­teuer bet­rifft, sieht Art. 165 Abs. 3 DBG vor, dass die recht­skräfti­gen Ver­an­la­gungsver­fü­gun­gen und ‑entschei­de die gle­iche Wirkung wie ein voll­streck­bares Gericht­surteil haben. Das ein­schlägige öffentliche Recht macht dem­nach die Zwangsvoll­streck­ung davon abhängig, dass die Ver­an­la­gung formell recht­skräftig ist, und stellt insofern höhere Anforderun­gen. Mit anderen Worten liegt eine auf dem Wege der Schuld­be­trei­bung voll­streck­bare Ver­fü­gung erst vor, wenn sie in formelle Recht­skraft erwach­sen ist. Für die Recht­söff­nung wird daher nach all­ge­mein­er Auf­fas­sung voraus­ge­set­zt, dass die Ver­an­la­gungsver­fü­gun­gen und ‑entschei­de nicht nur voll­streck­bar, son­dern auch recht­skräftig sind (…).»


Defin­i­tive Recht­söff­nung im Steuer­recht gestützt auf eine Sicherstellungsverfügung

In der Folge set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage auseinan­der, ob auch die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung, die unab­hängig davon, ob bere­its eine recht­skräftige Ver­an­la­gung vor­liegt, von der zuständi­gen Steuer­be­hörde bei ein­er Gefährdung der Steuer­forderung erlassen wird, für die Erteilung der defin­i­tiv­en Recht­söff­nung voll­streck­bar und formell recht­skräftig sein muss.

Die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung im Allgemeinen

Zunächst rief das Bun­des­gericht die Voraus­set­zun­gen für den Erlass der Sich­er­stel­lungsver­fü­gung, deren Recht­snatur und die anwend­baren Ver­fahrensvorschriften in Erin­nerung (E. 2.2.1 und 2.2.2):

«2.2.1 Hat der Steuerpflichtige keinen Wohn­sitz in der Schweiz oder erscheint die Bezahlung der von ihm geschulde­ten Steuer als gefährdet, so kann die kan­tonale Ver­wal­tung für die direk­te Bun­dess­teuer auch vor der recht­skräfti­gen Fest­stel­lung des Steuer­be­trags jed­erzeit Sich­er­stel­lung ver­lan­gen. Die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung gibt den sicherzustel­len­den Betrag an und ist sofort voll­streck­bar. Sie hat im Betrei­bungsver­fahren die gle­ichen Wirkun­gen wie ein voll­streck­bares Gericht­surteil (Art. 169 Abs. 1 DBG). Beschw­er­den gegen Sich­er­stel­lungsver­fü­gun­gen haben keine auf­schiebende Wirkung (Art. 169 Abs. 4 DBG). Die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung gilt als Arrest­be­fehl nach Art. 274 SchKG (Art. 170 Abs. 1 DBG). Auch die Kan­tone kön­nen Sich­er­stel­lungsver­fü­gun­gen der zuständi­gen kan­tonalen Steuer­be­hör­den den Arrest­be­fehlen nach Art. 274 SchKG gle­ich­stellen (Art. 78 StHG).

2.2.2. Öffentlich-rechtliche und pri­va­trechtliche Forderun­gen sind zwar in der Voll­streck­ung grund­sät­zlich gle­ichgestellt (…). Die eigentliche fiskalis­che Beschlagnahme richtet sich aber auss­chliesslich nach der Spezialge­set­zge­bung von Bund und Kan­to­nen (Art. 44 SchKG…). Dem Staat kommt in der Steuer­durch­set­zung ein Priv­i­leg gegenüber anderen Gläu­bigern zu, indem seine Sich­er­stel­lungsver­fü­gung, wie erwäh­nt, als Arrest gemäss Art. 274 Abs. 1 SchKG gilt, der vom Betrei­bungsamt zu vol­lziehen ist (Art. 170 Abs. 1 DBG). Eine Arrestein­sprache ist nicht möglich. Wer­den die Voraus­set­zun­gen ein­er Sich­er­stel­lung bestrit­ten, so kann einzig die Ein­sprache bei der Steuer­be­hörde oder der Rekurs bei der jew­eili­gen Beschw­erde­in­stanz erhoben werden (…).»

Die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung in der Betrei­bung auf Sicher­heit­sleis­tung als defin­i­tiv­er Rechtsöffnungstitel

Sodann set­zte sich das Bun­des­gericht mit der Frage auseinan­der, ob die defin­i­tive Recht­söff­nung in ein­er Betrei­bung auf Sicher­heit­sleis­tung gestützt auf eine formell noch nicht recht­skräftige Sich­er­stel­lungsver­fü­gung erteilt wer­den kann und legte zu diesem Zweck Art. 165 Abs. 3 und Art. 169 Abs. 1 DBG aus:

Sich­er­stel­lungsver­fü­gung und Arrestprosequierungsfrist

«6.3.3. […] Der Arrest bein­hal­tet eine Sicherungs­mass­nahme, mit der die Steuer­be­hör­den Ver­mö­genswerte vor­läu­fig beschlagnah­men lassen kön­nen. Damit dieser Zus­tand nicht unberechtigt lange beste­hen bleibt, muss der Arrest nach Art. 279 SchKG inner­halb von zehn Tagen pros­e­quiert wer­den. Wird diese Frist für das Fort­set­zungs­begehren ver­passt, fällt der Beschlag über die arrestierten Ver­mö­genswerte automa­tisch dahin (Art. 280 Ziff. 1 SchKG; …). Die Pros­e­quierung kann gemäss Art. 279 SchKG durch Betrei­bung oder Klage erfol­gen. Tauglich ist eine Klage, die zu einem Recht­söff­nungsti­tel führt. Sie muss fol­glich auf Zahlung oder Sich­er­stel­lung ein­er Geld­forderung gerichtet sein (…). In Frage kommt neben der Ein­leitung eines Veranlagungs‑, Nach­s­teuer- oder Bussen­ver­fahrens auch der Erlass ein­er Sich­er­stel­lungsver­fü­gung (…). Hat ein Steuer­amt ein Arrestver­fahren ein­geleit­et, stützt sich dieses prax­is­gemäss auf eine Sich­er­stel­lungsver­fü­gung. Das Ver­fahren, in dem die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung erlassen wird, gilt als Klageer­he­bung im Sinne von Art. 279 Abs. 1 SchKG (…). Die Steuerämter haben demzu­folge erst nach Recht­skraft der Sich­er­stel­lungsver­fü­gung eine Betrei­bung einzuleit­en. Dies innert zehn Tagen seit Recht­skraft der Sicherstellungsverfügung (…).»

Die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung als Arrest­grund und Arrestbefehl

«6.3.4. […] Die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung [, die nicht nur im DBG, son­dern auch in anderen Erlassen vorge­se­hen ist,] ist eine Auf­forderung an den Steuerpflichti­gen, Sicher­heit­en jeglich­er Art an die ver­fü­gende Zoll- oder Steuer­be­hörde zu leis­ten. Sie ist nicht nur Arrest­grund, son­dern zugle­ich auch Arrest­be­fehl (vgl. aber die Ein­schränkun­gen in Art. 43 Abs. 2 Satz 2 StG und Art. 47 Abs. 2 Satz 2 VStG). Das zuständi­ge Betrei­bungsamt vol­lzieht die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung direkt ohne Anhörung der Betrof­fe­nen, was unmit­tel­bar zur Beschlagnahme der betrof­fe­nen Ver­mö­gens­ge­gen­stände führt. Dem Staat wird ermöglicht, Ver­mö­gens­ge­gen­stände des Steuerpflichti­gen zu arrestieren (sog. Steuer­ar­rest) und diesen durch Betrei­bung auf Sicher­heit­sleis­tung zu pros­e­quieren, auch wenn die sicherzustel­lende Steuer­forderung noch gar nicht recht­skräftig ver­an­lagt wurde. Damit wird der Staat gegenüber den anderen Gläu­bigern (dop­pelt) priv­i­legiert, was in der Lehre als prob­lema­tisch beurteilt wird […].»

Die Gren­zen des staatlichen Priv­i­legs im Steuer­ar­rest: Grund­satz der Gle­ich­be­hand­lung des öffentlich- und pri­va­trechtlichen Gläubigers

«6.3.5. Es ste­ht fest, dass der Geset­zge­ber die Steuer- und Zoll­be­hör­den mit dem Erlass der in E. 6.3.4 hier­vor disku­tierten Spezialbes­tim­mungen priv­i­legieren wollte. Dieses Bestreben ste­ht in einem Span­nungsver­hält­nis zum Grund­satz der Gle­ich­be­hand­lung des öffentlich- und pri­va­trechtlichen Gläu­bigers, auf dem das Schuld­be­trei­bungsrecht beruht (…). Es muss angenom­men wer­den, dass sich der Geset­zge­ber nicht über Gebühr vom Grund­satz der Gle­ich­be­hand­lung öffentlich- und pri­va­trechtlich­er Gläu­biger ent­fer­nen wollte. Der legit­ime Zweck der Spezialbes­tim­mungen beste­ht darin, dass den betrof­fe­nen Behör­den der Gang zum Arrest­gericht erspart bleibt. Eine weit­ere Priv­i­legierung dahinge­hend, dass auch für eine nicht recht­skräftige Sich­er­stel­lungsver­fü­gung in der Betrei­bung auf Sicher­heit­sleis­tung Recht­söff­nung erteilt wird, erscheint nicht sachgerecht.»

Nur die recht­skräftige Sich­er­stel­lungsver­fü­gung stellt einen defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel dar

«6.3.6. Gemäss Art. 169 Abs. 1 Satz 2 DBG sind Sich­er­stel­lungsver­fü­gun­gen sofort voll­streck­bar. Dies erk­lärt sich offenkundig aus ihrer Funk­tion als Arrest­be­fehl. Mit dem Vol­lzug des Arrests ist der Sicherungszweck erfüllt. Die Bestä­ti­gung des ange­focht­e­nen Urteils hätte zur Folge, dass der Beschw­erdegeg­ner­in darüber hin­aus bere­its eine Ver­w­er­tung der mit Arrest belegten Ver­mö­genswerte ermöglicht würde, bevor das vom Beschw­erde­führer frist­gerecht ange­hobene Beschw­erde­v­er­fahren abgeschlossen und die Sich­er­stel­lungsver­fü­gung in Recht­skraft erwach­sen ist. Es ist aber mit der ratio legis von Art. 169 Abs. 1 Satz 2 DBG nicht vere­in­bar, in das Eigen­tum der Steuerpflichti­gen einzu­greifen und dieses zu ver­w­erten, bevor ein vom Beschw­erde­führer angerufenes Ver­wal­tungs­gericht über die Voraus­set­zun­gen der Sich­er­stel­lung materiell entsch­ieden hat. Die Betrei­bung auf Sicher­heit­sleis­tung kann daher erst nach Ein­tritt der Recht­skraft der Sich­er­stel­lungsver­fü­gung fort­ge­set­zt wer­den. Dementsprechend bildet erst die recht­skräftige Sich­er­stel­lungsver­fü­gung einen defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel im Sinne von Art. 80 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG

Vor diesem Hin­ter­grund hob das Bun­des­gericht das Urteil der Vorin­stanz auf und wies das Recht­söff­nungs­ge­such der Gläu­bigerin man­gels recht­skräftiger Sich­er­stel­lungsver­fü­gung ab.