5A_825/2021: keine definitive Rechtsöffnung trotz gesetzlicher Grundlage bei Fehlen eines definitiven Rechtsöffnungstitels (amtl. Publ., FR)

Im zur Publikation vorgesehenen Entscheid 5A_825/2021 vom 31. März 2022 setzte sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob die definitive Rechtsöffnung für in einem Gesetz bzw. in einer Verordnung vorgesehene Mahn- und Inkassogebühren zu erteilen ist, wenn diese Gebühren nicht Gegenstand einer rechtskräftigen Verfügung bilden. Das Bundesgericht verneinte dies und kam zum Schluss, dass die definitive Rechtsöffnung mangels definitiven Rechtsöffnungstitels in solchen Fällen verweigert werden muss, da ein Gesetz bzw. eine Verordnung in einem solchen Fall einen definitiven Rechtsöffnungstitel nicht zu ersetzen vermag.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Mit Straf­be­fehl vom 26. August 2019 wurde der Schuld­ner zu ein­er Busse von CHF 100 verurteilt. Zudem wurde er verpflichtet, die Ver­fahren­skosten im Umfang von CHF 100 zu tra­gen. Dieser Straf­be­fehl ist in Recht­skraft erwachsen.

Am 31. Okto­ber 2019 wurde der Schuld­ner von der für das Inkas­so zuständi­gen Behörde gemah­nt und aufge­fordert, den Betrag von CHF 200 zzgl. CHF 30 Mah­nge­bühren zu bezahlen. Daraufhin leit­ete die Behörde eine Betrei­bung für CHF 200 (Busse und Ver­fahren­skosten) zzgl. CHF 62 (Mahn- und Inkas­so­ge­bühren) gegen den Schuld­ner ein. Dage­gen erhob der Schuld­ner Rechtsvorschlag. Das erstin­stan­zliche Gericht erteilte die defin­i­tive Recht­söff­nung im vollen Umfang. In der Zwis­chen­zeit zog der Schuld­ner den Rechtsvorschlag im Umfang von CHF 200 zurück. Die Beschw­erde­in­stanz hiess in der Folge die Beschw­erde des Schuld­ners teil­weise gut und erteilte die defin­i­tive Recht­söff­nung im Umfang von lediglich CHF 32 (anstatt CHF 62).

Dage­gen erhob der Schuld­ner Beschw­erde in Zivil­sachen, even­tu­aliter sub­sidiäre Ver­fas­sungs­beschw­erde. Das Bun­des­gericht bejahte in diesem Fall das Vor­liegen ein­er Frage von grund­sät­zlich­er Bedeu­tung, trat auf die Beschw­erde in Zivil­sachen ein und hiess diese gut.

Vor Bun­des­gericht war einzig strit­tig, ob die defin­i­tive Recht­söff­nung für Gebühren wie Mahn- oder Inkas­so­ge­bühren erteilt wer­den darf, wenn diese Gebühren nicht Gegen­stand ein­er recht­skräfti­gen Ver­fü­gung — son­dern eines Geset­zes bzw. ein­er Verord­nung — bilde­ten und deren Entste­hung auf Hand­lun­gen der Behör­den, die nach der Ver­fü­gung vorgenom­men wur­den, zurück­zuführen ist (E. 4).

Das Bun­des­gericht rief zunächst seine bish­erige Recht­sprechung in Erin­nerung: Bei einem Gesuch um Erteilung der defin­i­tiv­en Recht­söff­nung (Art. 80 SchKG) muss der Richter ins­beson­dere prüfen, ob die in Betrei­bung geset­zte Forderung aus dem vorgelegten Doku­ment (Urteil oder einem Urteil gle­ichgestell­ter Titel) her­vorge­ht. Ein defin­i­tiv­er Recht­söff­nungsti­tel liegt vor, wenn das Doku­ment den Schuld­ner ein­deutig zur Zahlung ein­er bes­timmten Geld­summe verpflichtet. Der Recht­söff­nungsrichter muss in diesem Zusam­men­hang nur entschei­den, ob diese Verpflich­tung aus dem Urteil her­vorge­ht. Zwar kann er zu diesem Zweck auch andere Doku­mente her­anziehen, sofern der Titel auf diese ver­weist. Das Gericht hat jedoch wed­er über den materiellen Bestand der Forderung zu befind­en, noch sich mit der materiellen Richtigkeit des Urteils zu befassen (E. 4.1.2.2).

Das Bun­des­gericht hat­te nie die Frage zu beurteilen, ob eine geset­zliche Grund­lage den defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel für die Betrei­bung von Haupt­forderun­gen wie Ver­wal­tungs­ge­bühren, erset­zen kann. Hinge­gen erwog das Bun­des­gericht in einem Entscheid von 2016 (5D_13/2016, E. 2.3.3), dass die defin­i­tive Recht­söff­nung für einen Nebe­nanspruch zu ein­er Forderung auf Rück­er­stat­tung von zu Unrecht bezo­ge­nen Arbeit­slosen­geldern, der einen Verzugszins von 5% zum Gegen­stand hat­te und der offen­sichtlich nicht im Titel über die Haupt­forderung enthal­ten war, man­gels ein­er früheren Mah­nung bere­its ab dem Tag nach der Zustel­lung des Zahlungs­be­fehls und nicht erst ab Ein­tritt der Recht­skraft des verurteilen­den Entschei­ds zu erteilen war. Eben­so entsch­ied das Bun­des­gericht in BGE 145 III 345 (E. 4.4.4), dass  die defin­i­tive Recht­söff­nung für eine Verzugszins­forderung auf peri­odis­che fam­i­lien­rechtliche Unter­halts­beiträge, die im zur Leis­tung von Unter­halts­beiträ­gen verpflich­t­en­den Urteil nicht aufge­führt war, seit dem Tag der Betrei­bungsan­hebung, d.h. seit dem Ver­sand des Betrei­bungs­begehrens, zu erteilen ist, da fam­i­lien­rechtliche Unter­halts­beiträge unter die Renten i.S.v. Art. 105 Abs. 1 OR fall­en (E 4.2.1).

Das Bun­des­gericht set­zte sich in diesem Zusam­men­hang mit eini­gen kan­tonalen Recht­sprechun­gen auseinan­der, gemäss welchen entsch­ieden wurde, dass das Vor­liegen ein­er geset­zlichen Grund­lage (bzw. auf Verord­nungsstufe) den defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel nicht nur für die Neben­forderung (Verzugszin­sen) erset­zt, son­dern auch für Haupt­forderun­gen des Staates wie die Mahn- und Inkas­sokosten. Dabei berufen sich die betrof­fe­nen Gerichte vor allem auf den Grund­satz der Ver­fahren­sökonomie und des öffentlichen Inter­ess­es. Das Bun­des­gericht merk­te jedoch an, das diese Frage nicht ein­heitlich beant­wortet wird: Das Oberg­ericht des Kan­tons Zürich lehnt näm­lich eine solche Aus­nahme ab, die über die Erteilung der defin­i­tiv­en Recht­söff­nung für die Verzugszin­sen hin­aus­ge­ht, da das Zürcher Oberg­ericht es als zumut­bar erachtet, dass die für das Inkas­so zuständi­ge Behörde über die Mahnkosten in ein­er Ver­fü­gung ver­fügt oder dass die recht­sprechende Behörde die Zahlung allfäl­liger zusät­zlich­er Gebühren im Urteils­dis­pos­i­tiv aus­drück­lich vor­sieht (E. 4.2.2). Das Bun­des­gericht stellte fern­er fest, dass auch die Lehre zu dieser Frage unter­schiedliche Ansicht­en ver­tritt (E. 4.2.3).

Das Bun­des­gericht bestätigte seine Recht­sprechung i.Z.m. Verzugszin­sen als Nebe­nanspruch. Dage­gen erwog es, dass ein Gesetz bzw. eine Verord­nung einen defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel für eine Haupt­forderung wie Mahn- und Inkas­so­ge­bühren nicht zu erset­zen ver­mag und dass ein Entscheid i.S.v. Art. 80 SchKG erforder­lich ist (E. 4.2.4, Her­vorhe­bun­gen hinzugefügt):

Il n’y a pas lieu de revenir sur la jurispru­dence fédérale qui autorise le juge de la main­levée à pronon­cer la main­levée défini­tive pour les intérêts mora­toires légaux nés postérieure­ment au pronon­cé de la déci­sion (ou du titre assim­ilé) valant titre de main­levée défini­tive pour la créance prin­ci­pale. Le juge de la main­levée exam­ine certes les con­di­tions matérielles de la créance acces­soire d’in­térêt mora­toire légal. Il ne procède toute­fois ain­si qu’en lien avec l’ac­ces­soire de la créance prin­ci­pale, pour laque­lle le pour­suiv­ant doit pro­duire un titre de mainlevée.
En revanche, les jurispru­dences can­tonales et les auteurs qui élar­gis­sent cette pra­tique aux émol­u­ments tels que les frais de som­ma­tion postérieurs à la pour­suite ou d’in­tro­duc­tion de la pour­suite ne peu­vent être suiv­is. Pour la créance prin­ci­pale, il ne peut être dérogé au principe car­di­nal de l’ex­i­gence d’un titre de main­levée ancré dans la LP. A not­er d’ailleurs que ces jurispru­dences can­tonales se fondent sys­té­ma­tique­ment sur deux auteurs qui ne s’ex­pri­ment en réal­ité qu’en matière de main­levée pro­vi­soire suite à laque­lle le débi­teur peut encore agir par la voie de l’ac­tion en libéra­tion de dette. Ils exi­gent en out­re que le débi­teur ait accep­té à l’a­vance un mon­tant indi­vidu­el et déter­miné dû pour chaque mise en demeure et que le créanci­er pro­duise les copies de la mise en demeure au tri­bunal (…). Or, l’avis de ces auteurs va à l’en­con­tre d’une déro­ga­tion à l’ex­i­gence d’un titre de main­levée défini­tive. On en déduit plutôt une exi­gence d’une recon­nais­sance de dette con­di­tion­nelle en matière de main­levée provisoire.
Quant à la mise en oeu­vre de cette exi­gence d’un titre de main­levée défini­tive, les modal­ités posées par la jurispru­dence zuri­choise sus­ex­posée (…), doivent être repris­es: pour obtenir la main­levée défini­tive, soit l’au­torité admin­is­tra­tive de recou­vre­ment doit ren­dre une déci­sion indépen­dante pour les émol­u­ments, soit l’au­torité qui rend la déci­sion ini­tiale doit prévoir dans son dis­posi­tif le paiement d’éventuels frais sup­plé­men­taires, déter­minés et chiffrés, dus de manière con­di­tion­nelle en cas d’inexé­cu­tion.

Das Bun­des­gericht kam damit zum Schluss, dass die Vorin­stanz Art. 80 SchKG ver­let­zte, als diese die defin­i­tive Recht­söff­nung im Umfang von CHF 32 erteilte, obschon die Betreibende über keinen defin­i­tiv­en Recht­söff­nungsti­tel verfügte.