6B_30/2010: Unschuldsvermutung und Prozessentschädigung

Das Bun­des­gericht äussert sich im Urteil vom 1. Juni 2010 (6B_30/2010) zur Unschuldsver­mu­tung und zur Prozesskoste­nentschädi­gung. Der wegen Verun­treu­ung gemäss gemäss Art. 138 Ziff. 1 Abs. 2 StGB verurteilte Beschw­erde­führer hat­te die Entschei­dung der Vorin­stanz unter anderem gerügt mit der Begrün­dung, sie ver­let­ze nicht nur die Unschuldsver­mu­tung als Beweis­las­tregel und das Aus­sagev­er­weigerungsrecht, son­dern set­ze auch die zu vergü­ten­den Stun­den und den Stun­de­nansatz zu tief an.

Eine Ver­let­zung der Unschuldsver­mu­tung kon­nte das Bun­des­gericht nicht erkennen: 

4.1 Als Beweis­las­tregel bedeutet der Grund­satz in dubio pro reo, dass es Sache der Anklage­be­hörde ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen. Der Grund­satz ist ver­let­zt, wenn der Strafrichter einen Angeklagten (einzig) mit der Begrün­dung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen bzw. er habe bes­timmte Ent­las­tungs­be­weise nicht beige­bracht (BGE 127 I 38 E. 2a mit Hin­weis). Die Behör­den würdi­gen die Beweise jedoch frei (Art. 249 BStP). Der Richter kann aus der Weigerung des Beschuldigten, nähere Angaben zum Sachver­halt zu machen, seine Schlüsse ziehen, sofern eine Erk­lärung des Beschuldigten angesichts der belas­ten­den Beweise­le­mente vernün­ftiger­weise erwartet wer­den dürfte und dieser sich nicht zu Recht auf ein Zeug­nisver­weigerungsrecht beruft. Weigert sich der Beschuldigte, zu sein­er Ent­las­tung erforder­liche Angaben zu machen und fehlen Anhalt­spunk­te für die Richtigkeit sein­er ent­las­ten­den Behaup­tun­gen, darf das Gericht in freier Beweiswürdi­gung zum Schluss kom­men, dessen Vor­brin­gen seien als unglaub­haft zu qual­i­fizieren. Darin liegt wed­er eine Ver­let­zung des Aus­sagev­er­weigerungsrechts des Beschuldigten noch eine ver­fas­sungswidrige Umkehr der Beweis­last (Urteile des Bun­des­gerichts 1P.684/2001 vom 3. Juni 2002 E. 2.2; 1P.641/2000 vom 24. April 2001, E. 3 und 4 mit Hin­weisen; 1P.496/1993 vom 12. Novem­ber 1993 E. 3b).

Die Prozessentschädi­gung, die durch die Vorin­stanz fest­ge­set­zt wurde, weil “keine genü­gend spez­i­fizierte Entschädi­gungs­forderung” vorgele­gen habe und “ein dem Ver­fahren angepasster notwendi­ger Vertei­di­gungsaufwand in dieser Höhe unter keinem Titel auch nur ansatzweise plau­si­bel” erschienen sei, sieht das Bun­des­gericht eben­falls als gerecht­fer­tigt an. Die Argu­men­ta­tion des Beschw­erde­führers, die “Detail­lierung der Hon­o­rarnote unter­liege dem Anwalts­ge­heim­nis und hätte vom Gericht gar nicht ver­langt wer­den dür­fen”, weshalb die “von der Vorin­stanz als angemessen erachteten Aufwen­dun­gen […] willkür­lich und ungenü­gend begrün­det” seien, lehnte es ab: 

5.3.4 Zu den Tat­sachen, welche vom Anwalts­ge­heim­nis erfasst wer­den, gehört schon der Umstand des Beste­hens eines Man­dats zwis­chen dem Recht­san­walt und seinem Klien­ten (vgl. Urteile 2C_508/2007 vom 27. Mai 2008 E. 2.1; 1S.5/2006 vom 5. Mai 2006 […] E. 5.3.1). Ist das Man­datsver­hält­niss­es, wie im Zusam­men­hang mit der Entschädi­gungs­frage bei einem Freis­pruch, schon bekan­nt, fällt allerd­ings nicht jede Infor­ma­tion über erbrachte Vertei­di­gungsleis­tun­gen unter das Anwalts­ge­heim­nis, wenn daraus keine Schlüsse auf deren materiellen Inhalt oder die Vertei­di­gungsstrate­gie gezo­gen wer­den kön­nen (Urteil 1S.5/2006 vom 5. Mai 2006 E. 5.3.1). Unprob­lema­tisch ist es daher, wenn vom Freige­sproch­enen im Zusam­men­hang mit der Beurteilung der Prozessentschädi­gung ver­langt wird, dass die Rech­nungspo­si­tio­nen in den ein­gere­icht­en Hon­o­rarnoten auch nach der Art der Tätigkeit (Akten­studi­um, Kor­re­spon­denz, Besprechung, Tele­fonate, Ver­fassen von Rechtss­chriften, juris­tis­che Recherchen, Teil­nahme an Ver­hand­lun­gen, Reisezeit etc.) spez­i­fiziert wer­den. Der Freige­sproch­ene wird damit nicht zur Preis­gabe von Infor­ma­tio­nen gezwun­gen, welche dem Anwalts­ge­heim­nis unter­liegen. Allzu detail­lierte Angaben über Art, Ort und Zeit der Vor­nahme bes­timmter Leis­tun­gen, welche Rückschlüsse z.B. auf das Ver­hal­ten des Beschuldigten oder die Vertei­di­gungsstrate­gie zulassen, dür­fen hinge­gen nicht ver­langt wer­den (vgl. Urteil 1S.5/2006 vom 5. Mai 2006 E. 5.3.1).

Schliesslich zeigt das Bun­des­gericht auf, warum in diesem Fall auch kein Anspruch auf die volle Entschädi­gung, die zwis­chen Beschw­erde­führer und seinem Rechts­bei­s­tand vere­in­bart wor­den war, bestanden habe: 

5.4.2 § 15 Abs. 2 AnwT sieht einen Stun­de­nansatz von Fr. 180.– bis Fr. 300.– vor. Für die Bes­tim­mung des Hon­o­raransatzes ist im Einzelfall auf die all­ge­meinen Regeln von § 2 AnwT zurück­zu­greifen, wonach die Hon­o­rare inner­halb der im Tarif fest­gelegten Gren­zen nach der Schwierigkeit des Fall­es sowie nach dem Umfang und der Art der angemesse­nen Bemühun­gen festzule­gen sind. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Beschw­erde­führers gilt dies auch für pri­vate Man­date mit einem vere­in­barten Hon­o­raransatz (Urteil 6B_497/2007 vom 13. Novem­ber 2007 E. 2.5.1). […] Zwar kann dies im Ergeb­nis zur Folge haben, dass der Freige­sproch­ene einen Teil sein­er pri­vat­en Vertei­di­gungskosten auf­grund des mit seinem Anwalt vere­in­barten höheren Stun­de­nansatzes sel­ber tra­gen muss. Zu berück­sichti­gen ist jedoch, dass den Beschuldigten auch eine gewisse Schadens­min­derungspflicht trifft, weshalb er mit seinem Vertei­di­ger nicht einen beliebi­gen, vom Staat zu entschädi­gen­den Stun­de­nansatz vere­in­baren kann. Der Stun­de­nansatz von Fr. 250.– ist im Ver­hält­nis zu den heute unter Strafvertei­di­gern im freien Dien­stleis­tungsverkehr teil­weise (zu Recht oder Unrecht) prak­tizierten Ansätzen eher tief. Das Bun­des­gericht erachtete im Entscheid BGE 132 I 201 E. 7 einen Ansatz in der Grössenord­nung von Fr. 150.– pro Stunde als kos­ten­deck­end, wom­it dem anwaltlichen Vertreter beim angewen­de­ten Satz von Fr. 250.– pro Stunde ein dem Beruf­s­stand angemessen­er Ver­di­enst verbleibt. Dem Beschuldigten sollte es daher auch zu diesen Bedin­gun­gen möglich sein, einen Anwalt sein­er Wahl zu man­datieren. Ein Stun­de­nansatz von Fr. 250.– in Fällen mit­tlerer Kom­plex­ität bzw. von Fr. 200.– oder Fr. 220.– in weniger kom­plex­en Ver­fahren wurde auch in unlängst ergan­genen Entschei­den als mit dem Willkürver­bot vere­in­bar erk­lärt (vgl. etwa Urteile 6B_668/2009 vom 5. März 2010 E. 3.2 mit Hin­weis; 6B_347/2009 vom 10. Sep­tem­ber 2009 E. 2; 6B_194/2008 vom 11. August 2008 E. 3.3.2 […]).
5.4.3 Der Angeschuldigte hat Anspruch darauf, sich durch einen Vertei­di­ger sein­er Wahl vertei­di­gen zu lassen (Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK). Das Recht auf freie Vertei­di­gung kann der Angeklagte nur beanspruchen, wenn er diesen bezahlen kann ([…]). Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK sta­tu­iert bei Mit­tel­losigkeit des Angeklagten einen Anspruch auf unent­geltliche Ver­beistän­dung, regelt im Übri­gen jedoch die Kosten­folge der Vertei­di­gung beispiel­sweise im Falle eines Freis­pruchs nicht. Reichen die dem Angeschuldigten zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­tel lediglich aus, um einen Recht­san­walt mit einem durch­schnit­tlichen oder rel­a­tiv tiefen Stun­de­nansatz zu man­datieren, kann ihm dies nicht schaden. Bietet auch dieser Gewähr für eine wirk­same Vertei­di­gung, kann darin keine Ver­let­zung von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK gese­hen wer­den, nach­dem auch der gän­zlich mit­tel­lose Angeschuldigte seinen amtlichen Vertei­di­ger nicht frei wählen kann. Die Entschädi­gung eines tief­er­en Stun­de­nansatzes als den mit dem pri­vat­en Vertei­di­ger vere­in­barten ver­stösst nicht gegen Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK.