1B_184/2010: Anspruch auf amtliche Verteidigung

In seinem Urteil vom 9. Sep­tem­ber 2010 (1B_184/2010) bekräftigt das Bun­des­gericht seine Recht­sprechung zum Anspruch auf unent­geltlichen Rechts­bei­s­tand gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK. Danach wird dem Angeschuldigten im Straf­prozess die Bestel­lung eines unent­geltlichen Rechts­bei­s­tandes gewährt, wenn dies im Inter­esse der Recht­spflege erforder­lich ist.

2.3 […] Nach der Recht­sprechung ist die Bestel­lung eines unent­geltlichen Rechts­bei­s­tandes grund­sät­zlich geboten, wenn das Ver­fahren beson­ders stark in die Recht­spo­si­tio­nen der Betrof­fe­nen ein­greift (BGE 129 I 281 E. 3.1 S. 285 mit Hin­weisen). Falls kein beson­ders schw­er­er Ein­griff in die Rechte der Gesuch­stel­lerin dro­ht, müssen beson­dere tat­säch­liche oder rechtliche Schwierigkeit­en hinzukom­men, denen die Gesuch­stel­lerin – auf sich alleine gestellt – nicht gewach­sen wäre. Notwendig zur Rechtswahrung ist die Ver­beistän­dung namentlich dann, wenn sich die aufge­wor­fe­nen Rechts­fra­gen nicht leicht beant­worten lassen und die betr­e­f­fende Per­son nicht recht­skundig ist (BGE 119 Ia 264 E. 3b S. 266). Dabei sind die konkreten Umstände des Einzelfalls und die Eigen­heit­en der anwend­baren kan­tonalen Ver­fahrensvorschriften zu berück­sichti­gen. Als beson­dere Schwierigkeit­en fall­en nicht nur Umstände wie Kom­pliziertheit der Rechts­fra­gen, Unüber­sichtlichkeit des Sachver­halts und der­gle­ichen in Betra­cht, son­dern ins­beson­dere auch die Fähigkeit­en der betrof­fe­nen Per­son, sich im Ver­fahren zurecht zu find­en (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 f.; 122 I 49 E. 2c/bb S. 51 f. mit Hin­weisen). Bei offen­sichtlichen Bagatellfällen, bei denen nur eine Busse oder eine ger­ingfügige Frei­heitsstrafe in Frage kommt, verneint die Recht­sprechung jeglichen ver­fas­sungsmäs­si­gen Anspruch auf einen unent­geltlichen Rechts­bei­s­tand (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 233).


In casu dro­hte der Beschw­erde­führerin kein beson­ders stark­er Ein­griff in ihre Recht­spo­si­tion (Geld­strafe von 150 Tagessätzen zu 10 CHF bed­ingt bei ein­er Probezeit von vier Jahren und Busse von 200 CHF wegen ver­schieden­er Wider­hand­lun­gen gegen das AuG), es han­delte sich aber laut Bun­des­gericht auch nicht um einen Bagatell­fall (1. grund­sät­zliche Über­forderung der brasil­ian­is­chen Beschw­erde­führerin bei Hand­habung des schweiz­erischen Rechts auf­grund beschei­den­er schulis­ch­er Bil­dung und sozialer Herkun­ft sowie 2. rechtliche Würdi­gung des Sachver­haltes “ger­adezu kom­plex”). Zudem erschien die erhobene Beru­fung auch nicht von Vorn­here­in aus­sicht­s­los (1. Prob­lem der genü­gen­den Vertei­di­gung im Unter­suchungs- und erstin­stan­zlichen Ver­fahren sowie 2. Frage der Ver­w­ert­barkeit der Beweis­mit­tel). Das Bun­des­gericht hat die Beschw­erde daher gutgeheissen.