5A_584/2010: Befangenheit bei Vorbefassung

Vor dem Bun­des­gericht wurde die Ver­let­zung von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK gerügt, weil in einem sachen­rechtlichen Rechtsstre­it (Ausübung des Vorkauf­s­rechts mit Ein­tra­gung von Eigen­tum) zwis­chen dem Richter, der über vor­sor­gliche Mass­nah­men entsch­ied, und dem in der Haupt­sache entschei­den­den Richter eine Per­son­alu­nion bestanden hat­te. Das Bun­des­gericht weist die Beschw­erde mit Urteil vom 30. Novem­ber 2010 (5A_584/2010) ab. Erstens genügte es nicht, dass es im Mass­nahme- und im Hauptver­fahren um densel­ben materiellen Anspruch ging, um eine unzuläs­sige Vor­be­fas­sung der abgelehn­ten Gerichtsper­so­n­en anzunehmen. Zweit­ens hat­ten sich die betrof­fe­nen Gerichtsper­so­n­en im Mass­nah­meentscheid auch nicht in ein­er Art und Weise geäussert, die sie als nicht mehr offen und damit als befan­gen hin­sichtlich des Haupt­prozess­es erscheinen liess.

Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unab­hängi­gen und unpartei­is­chen Gericht ohne Ein­wirken sach­fremder Umstände entsch­ieden wird (vgl. BGE 135 I 14 E. 2 S. 15). Die Garantie des ver­fas­sungsmäs­si­gen Richters ist ver­let­zt, wenn bei objek­tiv­er Betra­ch­tungsweise Gegeben­heit­en vor­liegen, die den Anschein der Befan­gen­heit und die Gefahr der Vor­ein­genom­men­heit zu begrün­den ver­mö­gen (vgl. BGE 135 I 14 E. 2 S. 15; 131 I 113 E. 3.4 S. 116). War ein Richter in einem früheren Ver­fahren mit der konkreten Stre­it­sache schon ein­mal befasst (sog. Vor­be­fas­sung), ist er dann befan­gen, wenn er sich durch seine Mitwirkung an früheren Entschei­dun­gen in einzel­nen Punk­ten bere­its in einem Mass fest­gelegt hat, das ihn nicht mehr als unvor­ein­genom­men und dementsprechend das Ver­fahren als nicht mehr offen erscheinen lässt.

3. […] Ob eine unzuläs­sige, den Ver­fahren­saus­gang vor­weg­nehmende Vor­be­fas­sung ein­er Gerichtsper­son vor­liegt, kann nicht generell gesagt wer­den; es ist vielmehr in jedem Einzelfall zu unter­suchen, ob die konkret zu entschei­dende Rechts­frage trotz Vor­be­fas­sung als noch offen erscheint, und zwar anhand aller tat­säch­lichen und ver­fahren­srechtlichen Umstände, den in bei­den Ver­fahrenssta­di­en aufge­wor­fe­nen Fra­gen, dem Entschei­dungsspiel­raum sowie der Bedeu­tung der jew­eili­gen Entschei­dun­gen (BGE 131 I 113 E. 3.4 S. 116 f. mit Hin­weisen; BGE 114 Ia 50 E. 3d S. 59). Mehrfache Funk­tio­nen des Zivil­richters, der sich in dem­sel­ben Ver­fahren wieder­holt mit ein­er Stre­it­sache zu befassen hat, begrün­den für sich allein jedoch nicht ohne weit­eres einen Aus­stands­grund (BGE 131 I 113 E. 3.6 S. 119; 131 I 24 E. 1.3 S. 26 f.; je mit Hinweisen).

Mit Ver­weis auf seine gängige Recht­sprechung (vgl. BGE 131 I 113 E. 3.6 S. 119 […]) bejaht das Gericht sowohl grund­sät­zlich als auch hier die Zuläs­sigkeit der Dop­pel­funk­tion unter Her­anziehung von Sinn und Zweck der ver­fahren­srechtlichen Insti­tu­tion des vor­läu­fi­gen Rechtsschutzes:

3. […] Dieser soll die Parteien vor oder während der Hängigkeit des Prozess­es dage­gen schützen, dass der Stre­it­ge­gen­stand während des Prozess­es dem späteren Zugriff ent­zo­gen wird (Sicherungs­funk­tion); er soll Rechte und Pflicht­en während der Prozess­dauer im Dauer­rechtsver­hält­nis regeln (Regelungs­funk­tion), und er soll ver­hin­dern, dass das angestrebte Prozessziel durch den Zeitablauf bis zum Urteil ganz oder teil­weise illu­sorisch gemacht wird (Leis­tungs­funk­tion). Obschon der vor­läu­fige Rechtss­chutz insofern stets den materiell­rechtlichen Anspruch zum Gegen­stand hat, dient er allein den erwäh­n­ten beson­deren Zie­len. Er beruht zudem auf bloss glaub­haft gemacht­en Tat­sachen und präjudiziert den Entscheid im Haupt­prozess nicht. […].