1B_417/2010: Einziehungsbeschlagnahme vs. Steuersicherstellung

Das Bun­des­gericht hat mit Urteil vom 1. April 2011 (1B_417/2010, amtl. Publ.) eine Beschw­erde der Eid­genös­sis­chen Steuerver­wal­tung (EStV) abgewiesen. Diese richtete sich gegen die Aufhe­bung von Beschlagnah­mev­er­fü­gun­gen (Kon­ten- und Depotsper­ren) bei ver­schiede­nen Banken, welche die EStV im Rah­men ein­er fiskalstrafrechtlichen beson­deren Unter­suchung gegen den Beschuldigten X und seine Ehe­frau wegen des Ver­dachts von schw­eren Steuer­wider­hand­lun­gen erlassen hat­te. Mit dem Entscheid klärt das Bun­des­gericht das Ver­hält­nis zwis­chen der Sich­er­stel­lung ein­er Steuer­forderung nach dem DBG und der Einziehungs­beschlagnahme zur Ver­mö­gens­ab­schöp­fung nach dem VStrR.

Die Vorin­stanz, das Bun­de­strafgericht, war davon aus­ge­gan­gen, dass die Beschlagnah­men nicht der Sich­er­stel­lung bzw. Deck­ung ein­er Steuer­busse dien­ten, so dass es hier­für an ein­er geset­zlichen Grund­lage fehle. Die stre­it­i­gen Zwangs­mass­nah­men dien­ten vielmehr der Sich­er­stel­lung der mut­masslich geschulde­ten Nach­s­teuern neb­st Verzugszin­sen. Eine dem Gemein­we­sen zu Unrecht ent­gan­gene Steuer sei jedoch mit dem Insti­tut der Nach­s­teuer nachzu­fordern; für eine strafrechtliche Einziehung hin­ter­zo­gen­er Steuern bleibe kein Raum. Wenn aber keine Ver­mö­genswerte voraus­sichtlich der Einziehung unter­liegen kön­nten, sei eine Beschlagnahme nicht möglich.

Die EStV machte demge­genüber gel­tend, dass ein fun­da­men­taler Unter­schied zwis­chen dem fiskalrechtlichen Insti­tut der Sich­er­stel­lung ein­er Steuer­forderung und der ver­wal­tungsstraf­prozes­sualen Einziehungs­beschlagnahme beste­he. Eine ver­wal­tungsrechtlich durch­set­zbare Pflicht zur Leis­tung von Nach­s­teuern schliesse eine straf­prozes­suale sich­ernde Ver­mö­gens­beschlagnahme nicht aus. Ein „Ersatz“ durch eine steuer­rechtliche Sich­er­stel­lungsver­fü­gung sei im beson­deren Unter­suchungsver­fahren der EStV nicht möglich.

Das Bun­des­gericht schliesst sich der Auf­fas­sung der Beschw­erde­führerin an, weil die vom Bun­desstrafgericht vertretene Ansicht dazu führen würde, dass „im Rah­men von beson­deren Fiskalun­ter­suchun­gen wegen des Ver­dachts von schw­eren Steuer­wider­hand­lun­gen (ins­beson­dere von fort­ge­set­zten Hin­terziehun­gen gross­er Steuer­be­träge) ent­ge­gen der bun­des­gerichtlichen Prax­is keine sich­ern­den Ver­mö­gens­beschlagnah­men bei mut­masslichen Tätern und Teil­nehmern (sowie Drit­ten) mehr möglich wären“ (E. 6.1). Selb­st wenn eine (abgeschlossene) beson­dere Fiskalun­ter­suchung der EStV lediglich Anhalt­spunk­te für eine (allen­falls qual­i­fizierte) Steuer­hin­terziehung ergäbe, „wären mit der zuvor ver­fügten Beschlagnahme als pro­vi­sorische Sicherungs­mass­nahme grund­sät­zlich auch mögliche Nach- und Straf­s­teuern vor­läu­fig (ver­wal­tungsstraf­prozes­su­al) sichergestellt wor­den“ (E. 6.2):

6.3 […] Es liefe sowohl dem Wort­laut als auch dem Sinn und Zweck der geset­zlichen Vorschriften zuwider, wenn die EStV zwar bere­its schw­er­wiegende Ver­dachts­fälle fiskalstrafrechtlich zu unter­suchen hätte, wirk­same sich­ernde Zwangs­mass­nah­men aber — wenn über­haupt — früh­estens im Rah­men eines allfäl­lig sich anschliessenden Fiskalstrafver­fahrens bzw. Hin­terziehungs- und Nach­s­teuerver­fahrens ver­fügt wer­den kön­nten. Da die betrof­fe­nen mut­masslichen Täter oder Teil­nehmer gewarnt wären, wür­den (ver­spätete) Sicherungs­mass­nah­men bei schw­eren Ver­dachts­fällen regelmäs­sig ins Leere laufen. Auch die ver­wal­tungsrechtlichen Instru­mente der Steuer­sicherung (gemäss Art. 169 f. DBG) wür­den nach der Konzep­tion des Geset­zge­bers — während der beson­deren Fiskalun­ter­suchung durch die EStV — nicht ohne Weit­eres genü­gen, soweit sie (vor Eröff­nung eines allfäl­li­gen Hin­terziehungs- bzw. Nach­s­teuerver­fahrens durch die zuständi­ge Behörde) über­haupt schon anwend­bar wären. Dementsprechend ver­weist Art. 191 Abs. 1 DBG für zuläs­sige beson­dere Unter­suchungs­mass­nah­men wegen des Ver­dachts schw­er­er Steuer­wider­hand­lun­gen aus­drück­lich auf Art. 19–50 VStrR.

Ent­ge­gen der Ansicht der Vorin­stanz ergibt sich laut Bun­des­gericht auch aus Art. 333 Abs. 1 StGB keine Unzuläs­sigkeit ver­wal­tungsstraf­prozes­sualer Ver­mö­gens­beschlagnah­men im Rah­men der beson­deren Unter­suchung von mut­masslichen schw­eren Steuer­wider­hand­lun­gen, ins­beson­dere von fort­ge­set­zten Hin­terziehun­gen gross­er Steuer­be­träge (oder von Steuervergehen):

6.4 […] Die spezialge­set­zliche Grund­lage für die pro­vi­sorische Sicherungs­mass­nahme find­et sich in Art. 46 Abs. 1–2 VStrR i.V.m. Art. 191 Abs. 1 DBG. Bei der Prü­fung der Recht­mäs­sigkeit von Einziehungs­beschlagnah­men im beson­deren Unter­suchungsver­fahren ist im Einzelfall namentlich abzuk­lären, ob eine fiskalstrafrechtliche Einziehung grund­sät­zlich möglich erscheint oder nicht (vgl. BGE 135 I 257 E. 1.5 S. 260 mit Hin­weisen; 129 I 103 E. 2.1 S. 105 f.; 120 IV 365 E. 1c S. 366 f.; […]). Dabei sind (gestützt auf Art. 46 Abs. 1 lit. b VStrR und nach der Prax­is des Bun­des­gericht­es) die Art. 70–71 StGB vor­frageweise anzuwen­den („voraus­sichtlich der Einziehung unter­liegen“). Dass das VStrR oder das DBG eine pro­vi­sorische Ver­mö­gens­beschlagnahme (bzw. eine allfäl­lige fiskalstrafrechtliche Einziehung bzw. Her­aus­gabe an den Fiskus) spezialge­set­zlich auss­chlössen, trifft nicht zu.

Siehe auch die – eben­falls in diesem Zusam­men­hang (Beschlagnahme, Kon­ten- und Depotsper­ren, Grund­buchsper­ren) – ergan­genen Ver­fahren 1B_418/2010, 1B_419/2010 und 1B_11/2011 (alle­samt vom 1. April 2011).