2C_664/2010: Verletzung journalistischer Sorgfaltspflichten; Beschränkung der Rundfunkfreiheit

Bay­er (Schweiz) AG ist mit ein­er Beschw­erde gegen einen Entscheid der Uab­hängi­gen Beschw­erde­in­stanz für Radio und Fernse­hen (UBI) vor das Bun­des­gericht gelangt. Die Vorin­stanz hat­te in drei Sendun­gen der Schweiz­erischen Radio- und Fernse­hge­sellschaft (SRG) zu den Gefahren der vierten Gen­er­a­tion von Antibabyp­illen keine Ver­let­zung jour­nal­is­tis­ch­er Sorgfalt­spflicht­en und ins­beson­dere des Sachgerechtigkeits­ge­bots gese­hen, wie von der Beschw­erde­führerin vorge­bracht. Die strit­ti­gen Beiträge im Nachricht­en­magazin „10 vor 10“ hat­ten sich bei der Berichter­stat­tung über die Risiken auf das Bay­er-Prä­parat „Yas­min“ konzen­tri­ert, wobei die Redak­tion das Beispiel ein­er Betrof­fe­nen in den Vorder­grund stellte und eine anwaltschaftliche Sicht ein­nahm. Das Bun­des­gericht bestätigte den UBI-Entscheid mit Urteil vom 6. April 2011 (2C_664/2010) und wies die Beschw­erde ab.

Es war zu klären, ob die ange­focht­e­nen Sendun­gen die Vorschriften über den Inhalt redak­tioneller Sendun­gen (Art. 4, 5 und 97 Abs. 2 lit. a RTVG) ver­let­zt haben. Das Bun­des­gericht weist darauf hin, dass redak­tionelle Sendun­gen mit Infor­ma­tion­s­ge­halt Tat­sachen und Ereignisse sachgerecht wiedergeben sollen, sodass sich das Pub­likum eine eigene Mei­n­ung bilden kann:

2.1.2 […] Ein Beitrag darf ins­ge­samt nicht manip­u­la­tiv wirken, was der Fall ist, wenn er den (mündi­gen) Zuschauer in Ver­let­zung jour­nal­is­tis­ch­er Sorgfalt­spflicht­en unsachgemäss informiert und sich dieser gestützt auf die geliefer­ten Infor­ma­tio­nen oder deren Aufar­beitung kein eigenes Bild mehr machen kann, weil wesentliche Umstände ver­schwiegen oder “Geschicht­en” durch das Fernse­hen “insze­niert” wer­den (vgl. das Urteil 2C_291/2009 vom 12. Okto­ber 2009 E. 4.1 und 4.2 […]). Der Umfang der erforder­lichen Sorgfalt hängt von den Umstän­den, ins­beson­dere vom Charak­ter und den Eigen­heit­en des Sendege­fäss­es sowie dem jew­eili­gen Vor­wis­sen des Pub­likums ab (BGE 134 I 2 E. 3.3.1; 132 II 290 E. 2.1 S. 292; Urteil 2C_862/2008 vom 1. Mai 2009 E. 5 […]). Das Gebot der Sachgerechtigkeit ver­langt nicht, dass alle Stand­punk­te qual­i­ta­tiv und quan­ti­ta­tiv genau gle­ich­w­er­tig dargestellt wer­den; entschei­dend ist, dass der Zuschauer erken­nen kann, dass und inwiefern eine Aus­sage umstrit­ten ist. Ein all­ge­meines Prob­lem kann in diesem Rah­men — bei geeigneter Ein­bet­tung — auch anhand von Beispie­len illus­tri­ert wer­den (BGE 131 II 253 E. 2.1 mit Hin­weisen).
2.1.3 Die geset­zlichen Pro­grammbes­tim­mungen schliessen wed­er Stel­lung­nah­men und Kri­tiken noch den “anwaltschaftlichen Jour­nal­is­mus” aus, bei dem sich der Medi­en­schaf­fende zum Vertreter ein­er bes­timmten These macht; auch in diesem Fall muss aber die Trans­parenz im dargelegten Sinn gewahrt bleiben (Urteil 2C_862/2008 vom 1. Mai 2009 E. 5 mit Hin­weisen […]). […] Bei der Prü­fung der Pro­gramm­recht­skon­for­mität geht es nicht darum, ob die erhobe­nen Vor­würfe tat­säch­lich gerecht­fer­tigt sind oder nicht, son­dern um die Frage, ob der Betrof­fene in ein­er Art und Weise Stel­lung nehmen kon­nte, welche es dem Zuschauer erlaubte, sich ohne manip­u­la­tive Ele­mente ein eigenes Bild zu machen.

Bei der Ausle­gung von Art. 4 RTVG sei den Geboten von Art. 10 EMRK und der entsprechen­den Recht­sprechung des Europäis­chen Gericht­shofs für Men­schen­rechte (EGMR) Rech­nung zu tragen:

2.2. […] Beson­ders strenge Anforderun­gen an eine allfäl­lige Beschränkung der Rund­funk­frei­heit gel­ten danach bei Fra­gen von all­ge­meinem Inter­esse […]. Das Bedürf­nis, die Medi­en­frei­heit zu beschränken, muss in diesem Zusam­men­hang jew­eils beson­ders geboten erscheinen […]. Öffentliche Debat­ten, die sich auf eine hin­re­ichende fak­tis­che Basis stützen, sollen im Rah­men von Art. 10 Ziff. 2 EMRK nur aus­nahm­sweise beschränkt wer­den. In ihrer Funk­tion als “öffentliche Wach­hunde” (“pub­lic watch­dog”) haben die Medi­en — unter Ein­hal­tung der mit ihrer Frei­heit ver­bun­de­nen Pflicht­en und Ver­ant­wortlichkeit­en (Art. 10 Ziff. 2 Halb­satz 1 EMRK) — die Auf­gabe, Infor­ma­tio­nen und Ideen zu ver­bre­it­en, auch wenn diese kränken, schock­ieren oder beun­ruhi­gen (“offend, shock or dis­turb […]). Es ist Teil ihrer jour­nal­is­tis­chen Frei­heit, auch in einem gewis­sen Mass zu überze­ich­nen und zu provozieren. Für die Zuläs­sigkeit bes­timmter Darstel­lungs­for­men und Aus­druck­sweisen kommt es jew­eils darauf an, in welchem Kon­text berichtet wird. Scheint eine sachgerechte Berichter­stat­tung und Erk­lärung gesichert bzw. wird der Gegen­stand­punkt gut­gläu­big und im Rah­men der jour­nal­is­tis­chen Ethik angemessen berück­sichtigt […], so recht­fer­tigt sich eine Beschränkung der jour­nal­is­tis­chen Mei­n­ungsäusserung mit Blick auf Art. 10 Ziff. 2 EMRK nur ausnahmsweise […].

Die betr­e­f­fend­en Beiträge des Schweiz­er Fernse­hens haben die geset­zlichen Anforderun­gen nach Auf­fas­sung des Bun­des­gerichts erfüllt, wen­ngle­ich sie „in einzel­nen Punk­ten allen­falls anders und möglicher­weise auch bess­er hät­ten gestal­tet wer­den kön­nen“ (E. 4.1). Dies genüge jedoch nicht, um ein auf­sicht­srechtlich­es Ein­schre­it­en der UBI auf­grund des Sachgerechtigkeits­ge­bots gemäss Art. 4 RTVG zu rechtfertigen:

4.1 […] Der Pro­gram­mau­tonomie ist bei der Beurteilung der einzel­nen Sendung prax­is­gemäss insofern Rech­nung zu tra­gen, als ein auf­sicht­srechtlich­es Ein­greifen nicht bere­its erfol­gen darf, wenn ein Beitrag allen­falls nachträglich nicht in jed­er Hin­sicht voll zu befriedi­gen ver­mag, son­dern nur, falls er auch bei ein­er Gesamtwürdi­gung (vgl. BGE 132 II 290 E. 2.2 S. 293; 114 Ib 204 E. 3a S. 207; Urteil 2C_862/2008 vom 1. Mai 2009 E. 5 in fine […]) die pro­gramm­rechtlichen Min­destanforderun­gen ver­let­zt. Die Erfordernisse der Sachgerechtigkeit und Aus­ge­wogen­heit sollen im Einzelfall nicht der­art streng gehand­habt wer­den, dass die für die demokratis­che und plu­ral­is­tis­che Gesellschaft erforder­liche jour­nal­is­tis­che Frei­heit und Spon­taneität ver­loren gehen. Die in Art. 17 Abs. 1 und Art. 93 Abs. 3 BV garantierte Autonomie der Medi­en­schaf­fend­en ist nach der Recht­sprechung zu wahren; der ihnen bei der Pro­gram­mgestal­tung zuste­hende Spiel­raum ver­bi­etet es, auf­sicht­srechtlich bere­its einzu­greifen, wenn eine Sendung nicht in jed­er Hin­sicht voll befriedigt.