1B_236/2011: Aktivlegitimation im Rechtsmittelverfahren; überspitzter Formalismus (amtl. Publ.)

Das Bun­des­gericht hat einem Beschw­erde­führer mit Urteil vom 15. Juli 2011 (1B_236/2011, für die amtliche Samm­lung vorge­se­hen) recht gegeben, der rügte, dass die Vorin­stanz nicht auf den von ihm erhobe­nen Rekurs einge­treten ist, weil er den Begriff des Pri­vatk­lägers nicht aus­drück­lich genan­nt habe. Es erkan­nte darin einen über­spitzten For­mal­is­mus und damit eine Ver­let­zung von Art. 29 Abs. 1 BV sowie der Jus­tizgewährleis­tungspflicht. Allerd­ings ist auch nach Inkraft­treten der neuen Fas­sung von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG für eine Legit­i­ma­tion der Pri­vatk­läger­schaft erforder­lich, dass der Betrof­fene seine Zivi­lansprüche im Strafver­fahren vor­bringt.

Zur Aktivle­git­i­ma­tion der Pri­vatk­läger­schaft nach neuem Recht hält das Bun­des­gericht fest: 

1.3.1 […] Mit der Revi­sion von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG wurde die Legit­i­ma­tion auf die Pri­vatk­läger­schaft erweit­ert. Die zusät­zliche Voraus­set­zung, dass sich der ange­focht­ene Entscheid auf die Beurteilung der Zivi­lansprüche auswirken kann, blieb jedoch unverän­dert. An der Prax­is, dass der Beschw­erde­führer, soweit zumut­bar, seine Zivi­lansprüche im Strafver­fahren gel­tend gemacht haben muss, ist deshalb eben­so festzuhal­ten wie an der Aus­nahme im Falle von Verfahrenseinstellungen.

Der ange­focht­ene Entscheid hat­te aus­ge­führt, dass es wed­er aus den Akten ersichtlich sei noch behauptet werde, dass sich der Beschw­erde­führer als Pri­vatk­läger im Strafver­fahren kon­sti­tu­iert habe – was vom Bun­des­gericht vor­liegend anders beurteilt wird:

2.5 […] Angesichts der Tat­sache, dass er wed­er aus­drück­lich Pri­vatk­lage erhob noch darauf verzichtete, musste er indessen gemäss § 36 Abs. 2 StPO/LU auf dieses Recht und die Fol­gen der Pri­vatk­lage aufmerk­sam gemacht wer­den. Der Beschw­erde­führer bringt vor, dies sei nicht geschehen. Im Ver­fahren vor Bun­des­gericht wird dieser Darstel­lung von kein­er Seite wider­sprochen. Den Akten lässt sich eben­falls kein Hin­weis darauf ent­nehmen, dass der Beschw­erde­führer auf das Recht der Pri­vatk­lage aufmerk­sam gemacht wor­den wäre. Vielmehr gibt es Hin­weise darauf, dass die Staat­san­waltschaft bzw. das Amtsstatthal­ter­amt sog­ar davon aus­gin­gen, dem Beschw­erde­führer komme die Stel­lung eines Pri­vatk­lägers zu. […] Vor diesem Hin­ter­grund erscheint es als über­spitzt for­mal­is­tisch, dass die Vorin­stanz einzig darauf abstellte, ob sich der Beschw­erde­führer förm­lich bzw. aus­drück­lich als Pri­vatk­läger kon­sti­tu­ierte. Der ange­focht­ene Entscheid ver­let­zt Art. 29 Abs. 1 BV und ist deshalb aufzuheben.

Das Bun­des­gericht definiert „über­spitzen For­mal­is­mus“ wie folgt:

2.2 Über­spitzter For­mal­is­mus als beson­dere Form der Rechtsver­weigerung ist gegeben, wenn für ein Ver­fahren rig­orose For­mvorschriften aufgestellt wer­den, ohne dass die Strenge sach­lich gerecht­fer­tigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit über­trieben­er Schärfe hand­habt oder an Rechtss­chriften überspan­nte Anforderun­gen stellt und damit dem Bürg­er den Rechtsweg in unzuläs­siger Weise versper­rt (BGE 135 I 6 E. 2.1 S. 9 mit Hinweisen).