6B_441/2011: Nichtigkeit eines Gerichtsentscheids; (keine) notwendige Verteidigung

Ein Beschw­erde­führer machte vor dem Bun­des­gericht erfol­g­los gel­tend, das vorin­stan­zliche Urteil, mit dem er wegen mehrfachen Fahrens trotz Entzugs des Führerausweis­es gemäss Art. 95 Ziff. 2 SVG schuldig gesprochen wor­den war, sei auf­grund schw­er­wiegen­der Ver­fahrens­fehler nichtig. Ent­ge­gen sein­er Auf­fas­sung liegt kein Fall ein­er notwendi­gen Vertei­di­gung vor. Das Bun­des­gericht weist die Beschw­erde als unbe­grün­det ab (Urteil 6B_441/2011 vom 20. Sep­tem­ber 2011).

Zur Nichtigkeit von gerichtlichen Entschei­dun­gen heisst es in dem Bundesgerichtsurteil:

1.2 Fehler­hafte Entschei­de sind nach bun­des­gerichtlich­er Recht­sprechung nichtig, wenn der ihnen anhaf­tende Man­gel beson­ders schw­er ist, wenn er offen­sichtlich oder zumin­d­est leicht erkennbar ist und wenn zudem die Rechtssicher­heit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ern­sthaft gefährdet wird. Inhaltliche Män­gel ein­er Entschei­dung führen nur aus­nahm­sweise zur Nichtigkeit. Als Nichtigkeits­gründe fall­en vor­ab funk­tionelle und sach­liche Unzuständigkeit der entschei­den­den Behörde sowie krasse Ver­fahrens­fehler in Betra­cht. Die Nichtigkeit eines Entschei­ds ist von sämtlichen recht­san­wen­den­den Behör­den jed­erzeit von Amtes wegen zu beacht­en (BGE 133 II 366 E. 3.1 und 3.2 mit Hinweisen).

Im vor­liegen­den Fall ist das kan­tonale Straf­prozess­recht anwend­bar. Nach § 11 Abs. 2 Ziff. 3 StPO/ZH muss der Angeschuldigte durch einen Vertei­di­ger ver­beistän­det sein, wenn gegen ihn eine Frei­heitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine frei­heit­sentziehende Mass­nahme im Sinne des Strafge­set­zbuch­es beantragt ist oder in Aus­sicht ste­ht. Dabei ist nach nicht die abstrak­te Straf­dro­hung der anwend­baren Strafnorm mass­ge­blich, son­dern die konkreten Ver­hält­nisse im Einzelfall (vgl. BGE 120 Ia 43 E. 2b).

Die zuständi­ge Staat­san­waltschaft beantragte in ihrer Anklageschrift die Verurteilung des Beschw­erde­führers zu ein­er Geld­strafe und den Wider­ruf ein­er früher aus­ge­fäll­ten Gefäng­nis­strafe. Die Vorin­stanz sprach für die neuen Delik­te eine Frei­heitsstrafe von sechs Monat­en aus und wider­rief die Gefäng­nis­strafe von fünf Monat­en. Bei der Beurteilung der Notwendigkeit der Vertei­di­gung ist die gesamte voll­streck­bare Straf­dauer mass­ge­blich, weshalb die zu erwartende Frei­heitsstrafe und die zum Wider­ruf anste­hen­den bed­ingt aus­ge­sproch­enen Strafen zusam­men­zuzählen sind (vgl. BGE 129 I 281 E. 4.1). Mithin stand vor­liegend eine Frei­heitsstrafe von ins­ge­samt elf Monat­en in Aus­sicht. Die abstrak­te Straf­dro­hung nach Art. 95 Ziff. 2 SVG war nicht von Belang. Es ist deshalb kein Fall der notwendi­gen Vertei­di­gung gegeben (E. 1.4.2).

Zudem hat sich der Beschw­erde­führer selb­st zuzuschreiben, dass er bis anhin nicht anwaltlich vertreten war. Er war anlässlich der Ein­ver­nah­men stets auf die Möglichkeit des Beizugs eines Rechtsvertreters, sein Aus­sagev­er­weigerungsrecht sowie den Umstand, dass seine Aus­sagen als Beweis­mit­tel ver­wen­det wer­den, hingewiesen wor­den. Eben­so hat er sel­ber zu ver­ant­worten, dass er an der erstin­stan­zlichen Ver­hand­lung nicht zuge­gen war. Denn er beantragte aus­drück­lich, die Ver­hand­lung ohne seine Anwe­sen­heit durchzuführen. Schliesslich war es ihm auch möglich, den erstin­stan­zlichen Entscheid sachgerecht anzufecht­en. Seine Vertei­di­gungsrechte wur­den somit gewahrt. Es liegt fol­glich keine Nichtigkeit des ange­focht­e­nen Entschei­ds vor (E. 1.4.3).