1B_442/2011: Beschwerderecht der StA bei Nichtanordnung der Untersuchungshaft (amtl. Publ.)

In einem aktuellen Entscheid, der für die amtliche Samm­lung vorge­se­hen ist, hat das Bun­des­gericht seine jüng­ste Recht­sprechung zum Beschw­erderecht der Staat­san­waltschaft gegen ablehnende Haf­tentschei­de des Zwangs­mass­nah­men­gerichts bestätigt und for­ten­twick­elt. Dieses Beschw­erderecht ist nicht im Gesetz vorge­se­hen, wurde aber von der höch­strichter­lichen Judikatur aus­drück­lich anerkan­nt (vgl. auch BGE 137 IV 230 sowie unsere dies­bezüglichen Beiträge hier und hier).

Nach Auf­fas­sung des Bun­des­gerichts stellt es für die Staat­san­waltschaft einen nicht wieder gutzu­machen­den Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG dar, wenn ein Beschuldigter für die Dauer des Beschw­erde­v­er­fahrens vom Gericht nicht in Haft ver­set­zt wird und damit die Gefahr der Erschwerung oder gar Vere­it­elung des Strafver­fahrens beste­ht (E. 1.2).

Im vor­liegen­den Fall hat die beschw­erde­führende Staat­san­waltschaft zwar wegen Gegen­stand­slosigkeit kein aktuelles prak­tis­ches Inter­esse mehr an der Behand­lung ihrer Beschw­erde. Das Bun­des­gericht hat sich den­noch mit der Sache beschäftigt, weil dies „angesichts der Ver­fahren­sum­stände“ gerecht­fer­tigt sei (E. 1.3).

Der Staat­san­waltschaft ist es ver­wehrt, die Ver­weigerung ein­er vor­sor­glichen Inhaftierung des Beschuldigten durch die Beschw­erde­in­stanz beim Bun­des­gericht anzufecht­en. Sie muss den Sachentscheid der Beschw­erde­in­stanz abwarten und kann nur dage­gen Beschw­erde beim Bun­des­gericht ein­le­gen, sofern sie zu diesem Zeit­punkt noch über ein aktuelles prak­tis­ches Rechtss­chutz­in­ter­esse ver­fügt. Andern­falls entstünde eine dop­pelte, konkur­ri­erende Zuständigkeit ver­schieden­er Gerichtsin­stanzen für die gle­iche Stre­it­frage und das Bun­des­gericht müsste als erste gerichtliche Instanz die Inhaftierung eines Beschuldigten anord­nen, was ein­er sin­nvollen Gericht­sor­gan­i­sa­tion und Auf­gaben­teilung zuwider­liefe (E. 2).

Ver­fügt das Zwangs­mass­nah­men­gericht die sofor­tige Freilas­sung, obwohl nach Auf­fas­sung der Staat­san­waltschaft ein Haft­grund nach Art. 221 StPO beste­ht, kann das die Fort­führung des Strafver­fahrens erschw­eren oder gar vere­it­eln. Die Staat­san­waltschaft hat daher ein Inter­esse daran, im Rah­men ihrer Beschw­erde an die Beschw­erde­in­stanz nach Art. 393 StPO zumin­d­est vorüberge­hend die Freilas­sung ver­hin­dern zu kön­nen (E. 3.2).

Nur bei mündlich­er Ver­hand­lung eröffnet das Zwangs­mass­nah­men­gericht nach Art. 226 Abs. 2 StPO den Entscheid über die Inhaftierung auch mündlich, was die Staat­san­waltschaft in die Lage ver­set­zt, die Beschw­erde am Schluss der Ver­hand­lung anzukündi­gen. Um dem Erforder­nis der unverzüglichen Beschw­erdeer­he­bung im Anschluss an ihre Ankündi­gung nachzukom­men, muss die Staat­san­waltschaft spätestens nach drei Stun­den beim Zwangs­mass­nah­men­gericht eine (wenig­stens kurz) begrün­dete Beschw­erde­schrift ein­re­ichen und darin die Aufrechter­hal­tung der Haft beantra­gen. Dies­falls ist das Zwangs­mass­nah­men­gericht gehal­ten, den Beschuldigten weit­er in Haft zu belassen und die Beschw­erde verzugs­los der Beschw­erde­in­stanz zu über­mit­teln (E. 3.3).

Nach dem Ein­gang der Beschw­erde erlässt die Beschw­erde­in­stanz die erforder­lichen Anord­nun­gen im Sinne von Art. 388 StPO. Solche Anord­nun­gen müssen aus Grün­den der Dringlichkeit meist ohne Anhörung der betrof­fe­nen Per­son als super­pro­vi­sorische Ver­fü­gung erge­hen, sind aber anschliessend nach Gewährung des rechtlichen Gehörs zu bestäti­gen oder zu ändern. Eine von der Staat­san­waltschaft unmit­tel­bar nach Ken­nt­nis des Haf­tent­las­sungsentschei­ds, aber vor der tat­säch­lichen Ent­las­sung des Beschuldigten ein­gere­ichte Beschw­erde hat somit eine auf­schiebende Wirkung, so dass die Unter­suchung­shaft vor­läu­fig weit­erbeste­ht, bis die zuständi­ge Ver­fahrensleitung der Beschw­erde­in­stanz (super­pro­vi­sorisch) über weit­ere Mass­nah­men im Sinne von Art. 388 StPO entschei­den kann (E. 3.4).

Wie die Behör­den bei der Beurteilung von Haftver­längerungs­ge­suchen nach Art. 227 StPO und Haf­tent­las­sungs­begehren nach Art. 228 StPO vorzuge­hen haben, lässt das Bun­des­gericht aus­drück­lich offen (3.3).