4A_307/2011: Verletzung der Dispositionsmaxime; Rücktrittsrecht bei Verletzung einer Nebenpflicht (offengelassen)?

Das deutsche Energie­un­ternehmen EnBW kaufte 1995 ca. 25% der Aktien eines Unternehmens, dessen Akti­va u.a. aus einem Patent bestanden. Der Kauf­preis entsprach dem entsprechen­den Anteil am Unternehmenswert, der sein­er­seits mit dem Ertragswert (zukün­ftige Net­to-Erträge während ein­er bes­timmten Zeit, mit einem bes­timmten Zinssatz kap­i­tal­isiert). Die Parteien einigten sich in ein­er Schiedsvere­in­barung später auf eine bes­timmte Per­son als Gutachter. Die EnBW zweifelte dann aber die Neu­tral­ität des Gutachters an, nach­dem der Verkäufer ver­sucht hat­te, diesen zu bee­in­flussen, und weigerte sich, das Schiedsgutacht­en anzuerken­nen. Weil die Gegen­seite nicht auf entsprechende Ansprüche verzichtete, erk­lärte die EnBW den Rück­tritt vom Kaufver­trag und klagte auf Rück­zahlung der Anzahlung von rund EUR 25 Mio.

Das BezGer ZH wies die Klage ab, weil ein Rück­trittsrecht fehle. Das OGer wies die Sache an das BezGer ZH zurück: Es müsse noch geprüft wer­den, ob die Klage vielle­icht deshalb (teil­weise) gut­ge­heis­sen wer­den könne, weil der ver­tragliche Kauf­preis tiefer läge als die geleis­tete Anzahlung; dann kön­nte ein Anspruch auf Erstat­tung ein­er allfäl­li­gen Dif­ferenz bestehen.

Dadurch hat das OGer ZH, wie das BGer im vor­liegen­den Urteil fes­thält, die Dis­po­si­tion­s­maxime (hier noch aus § 54 II aZPO/ZH) willkür­lich ver­let­zt. Die EnBW hat­te ihr Begehren auf Zahlung von EUR 25 Mio. näm­lich klar indi­vid­u­al­isiert. Das Gericht ist aber an Gegen­stand und Umfang des Begehrens gebun­den, beson­ders wenn die Ansprüche im Rechts­begehren selb­st qual­i­fiziert oder beschränkt wer­den. Dies traf auf das strit­tige Begehren zu, das Zahlung Zug um Zug gegen Her­aus­gabe bzw. Freiga­be der gekauften Aktien ver­langte und das Begehren dadurch  als Rück­ab­wick­lungsanspruch qualifizierte.

Dage­gen bestätigt das BGer, dass kein Rück­trittsrecht bestand. Zwar hat­te der Aktien­verkäufer den Gutachter zu bee­in­flussen ver­sucht und dadurch eine ver­traglichen Nebenpflicht ver­let­zt, aber nur eine solche aus der Schiedsvere­in­barung. Dies genüge jeden­falls nicht als Grund­lage für einen Rück­tritt vom Aktienkaufver­trag wegen Unzu­mut­barkeit dessen Fort­führung. Das BGer kon­nte die Frage deshalb aus­drück­lich offen­lassen, ob die Ver­let­zung ein­er Nebenpflicht als Grund­lage eines Ver­tragsrück­tritts über­haupt in Frage kommt:

Mehrheitlich wird die Mei­n­ung vertreten, die Ver­let­zung bloss­er Nebenpflicht­en berechtige den Gläu­biger nur zu Schaden­er­satz, grund­sät­zlich nicht aber zur Aufhe­bung des Synal­lag­ma […]. Demge­genüber befür­wortet etwa KOLLER […], dass selb­st die Ver­let­zung nicht leis­tungs­be­zo­gen­er Nebenpflicht­en in Aus­nah­me­fällen zur Ver­tragsauflö­sung berechtige.

3.2 Wie es sich damit ver­hält, braucht vor­liegend nicht entsch­ieden zu werden. […]