9C_975/2012: Anwendungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe (amtl. Publ.)

Mit dem Vol­lzug des Gesam­tar­beitsver­trages für den flex­i­blen Alter­srück­tritt im Bauhaupt­gewerbe (GAV FAR), der teil­weise für all­ge­mein­verbindlich erk­lärt wurde, ist die Stiftung für den flex­i­blen Alter­srück­tritt im Bauhaupt­gewerbe (Stiftung FAR) betraut.
Im August 2010 teilte die Stiftung FAR der B. GmbH und der R. GmbH mit, sie seien seit dem 1. Jan­u­ar 2007 dem GAV FAR unter­stellt und hät­ten die entsprechen­den Beiträge zu bezahlen. Die bei­den Gesellschaften sind nicht Mit­glieder des Schweiz­erischen Baumeis­ter­ver­ban­des und bezweck­en gemäss Han­del­sreg­is­ter­auszug die Entwick­lung, Pla­nung, Pro­duk­tion und Instal­la­tion von Energie-Gewin­nungsan­la­gen und alle damit zusam­men­hän­gen­den Tätigkeiten.
In der Folge klagte die Stiftung FAR auf Zahlung der Beiträge. Das Ver­sicherungs­gericht des Kan­tons St. Gallen wies jedoch die Kla­gen mit Entschei­den vom 18. Okto­ber 2012 ab, woge­gen die Stiftung FAR Beschw­erde in öffentlich-rechtlichen Angele­gen­heit­en beim Bun­des­gericht erhob. Das Bun­des­gericht hiess die Beschw­er­den gut, hob die Entschei­de des Ver­sicherungs­gerichts auf und hiess die Kla­gen der Stiftung FAR gut (BGer. 9C_975/2012 und 9C_976/2012 vom 15. April 2013).

3.1 Die für den betrieblichen Geltungsbereich
ein­schlägige Bes­tim­mung von Art. 2 Abs. 4 des Bun­desrats­beschlusses vom
5. Juni 2003 über die All­ge­mein­verbindlicherk­lärung des GAV FAR (AVE GAV
FAR; BBl 2003 4039) lautet wie folgt:
“Die all­ge­mein­verbindlich erk­lärten Bes­tim­mungen des
im Anhang wiedergegebe­nen Gesam­tar­beitsver­trages über den flexiblen
Alter­srück­tritt (GAV FAR) gel­ten für die Betriebe, Betrieb­steile und
selb­ständi­gen Akko­r­dan­ten der fol­gen­den Bereiche:
a. Hoch‑, Tief‑, Untertag- und Strassen­bau (ein­schliesslich Belagseinbau);
b. Aushub, Abbruch, Deponie- und Recyclingbetriebe;
c. Stein­hauer- und Stein­bruchgewerbe sowie Pflästereibetriebe;
d. Fas­saden­bau- und Fassadenisolationsbetriebe,
ausgenom­men Betriebe, die in der Gebäude­hülle tätig sind.
Der Begriff «Gebäude­hülle» schliesst ein: geneigte
Däch­er, Unter­däch­er, Flachdäch­er und Fas­saden­bek­lei­dun- gen
(mit dazuge­hören­dem Unter­bau und Wärmedämmung);
e. Abdich­tungs- und Iso­la­tions­be­triebe für
Arbeit­en an der Gebäude­hülle im weit­eren Sinn und
analoge Arbeit­en im Tief- und Untertagbereich;
f. Beton­in­jek­tions- und Betonsanierungsbetriebe;
g. Betriebe, die Asphaltierun­gen aus­führen und Unter­lags­bö­den erstellen;
h. Betriebe, die gesamt­be­trieblich mehrheitlich
Geleise­bau- und Bah­nunter- halt­sar­beit­en aus­führen, ausgenommen
Betriebe, die Schienen­schweiss- und Schienenschleifarbeiten,
maschinellen Geleise­un­ter­halt sowie Fahr- leitungs- und
Stromkreis­la­u­far­beit­en ausführen.”

Mass­ge­blich­es Kri­teri­um für den betrieblichen
Gel­tungs­bere­ich ist somit die Branche, der ein Betrieb zuzuord­nen ist.
Dafür auss­chlaggebend sind die Tätigkeit­en, die ihm das Gepräge geben,
nicht hinge­gen der Han­del­sreg­is­tere­in­trag oder die Art und Weise, wie
die Tätigkeit­en aus­ge­führt resp. welche Hil­f­s­mit­tel dabei eingesetzt
wer­den (BGE 134 III 11 E. 2.1 S. 13 mit weit­eren Hin­weisen; Urteil 9C_374/2012 vom 7. Dezem­ber 2012 E. 2.6.1).

[…]

3.3 Tat­frage ist, welche Tätigkeit­en in einem Betrieb
oder selb­st­ständi­gen Betrieb­steil in welchem Aus­mass vorkommen.
Hinge­gen ist frei über­prüf­bare Rechts­frage (E. 2.2), welche der
fest­gestell­ten Tätigkeit­en dem Betrieb das Gepräge geben (SVR 2012 BVG
Nr. 23 S. 92, 9C_378/2011 E. 7.3.1; Urteil 4A_377/2009 vom 25. November
2009 E. 3.1 Abs. 1 in fine) resp. nach welchen Gesicht­spunk­ten die
Zuord­nung zu einem bes­timmten Wirtschaft­szweig erfol­gt (vgl. Urteil
9C_433/2012 vom 13. Feb­ru­ar 2013 E. 4.2 mit Hinweisen).
4.
4.1 Es ste­ht fest, dass bei­de Beschwerdegegnerinnen
nicht mehrere selb­st­ständi­ge Betrieb­steile, son­dern jew­eils nur einen
Betrieb führen, und dass die Betriebe in Bezug auf Organ­i­sa­tion und
Tätigkeit­en iden­tisch struk­turi­ert sind. Stre­it­ig und zu prüfen ist,
welch­er Branche sie zuzuord­nen sind, wobei sich namentlich die Frage
stellt, ob die Tätigkeit im Bere­ich der Erd­wärmeson­den­bohrun­gen ihnen
das Gepräge gibt. Ist dies zu beja­hen, ist sodann umstrit­ten, ob solche
Betriebe unter den Gel­tungs­bere­ich von Art. 2 Abs. 4 AVE GAV FAR (E.
3.1) fallen.

 […]

4.2.2 In den Akten gibt es keine Hin­weise dafür, dass die
Beschw­erdegeg­ner­in­nen Erd­wärmeson­den an sich (d.h. PE-Rohre resp.
‑Schläuche) entwick­eln, pla­nen, pro­duzieren oder verkaufen; an der
entsprechen­den Fest­stel­lung kann nicht fest­ge­hal­ten wer­den (E. 2.2).
Eben­so fehlen Anhalt­spunk­te dafür, dass die Her­stel­lung oder der Verkauf
und Ein­bau von Wärmepumpen zum eigentlichen Tätigkeits­bere­ich der
Beschw­erdegeg­ner­in­nen gehören. Vielmehr ist unbe­strit­ten und geht auch
die Vorin­stanz davon aus, dass die jew­eili­gen Betriebe im Wesentlichen
Heizungsan­la­gen erstellen in dem Sinne, als sie (ver­tikale) Erdbohrungen
vornehmen, Erd­wärmeson­den ein­brin­gen und deren (hor­i­zon­tal­en) Anschluss
an das Gebäude resp. die Wärmepumpe bew­erk­stel­li­gen. Die Feststellungen
betr­e­f­fend Zeit- und Umsatzan­teil der einzel­nen Tätigkeit­en grün­den auf
dem von den Beschw­erdegeg­ner­in­nen ein­gere­icht­en “Prozess­ablauf”; sie
sind nicht offen­sichtlich unrichtig und beruhen auch nicht auf einer
Rechtsver­let­zung, weshalb sie für das Bun­des­gericht verbindlich bleiben
(E. 2.2).

4.2.3 Aus­gangspunkt für die Zuord­nung eines Betriebes ist die auf dem
Markt ange­botene ein­heitliche (Arbeits-)Leistung; den dabei
notwendi­ger­weise und als inte­gri­eren­der Bestandteil anfal­l­en­den Hilfs-
und Neben­tätigkeit­en kommt keine eigen­ständi­ge Bedeu­tung zu, selb­st wenn
sie einen grösseren Arbeit­saufwand als die Grundleis­tung erfordern
(Urteil 4A_377/2009 vom 25. Novem­ber 2009 E. 5.2). Die Vorin­stanz hat
somit zutr­e­f­fend den Bere­ich “Ein­rich­tung”, d.h. die Bere­it­stel­lung von
Gerät, Werkzeug und Mate­r­i­al vor Ort, den Bohrar­beit­en zugerechnet.
Soweit sie indessen davon auszuge­hen scheint, dass eine bestimmte
Tätigkeit min­destens 50 % aller anfal­l­en­den Arbeit­en bzw. des Umsatzes
aus­machen muss, um einem Betrieb das Gepräge zu geben, ist ihr nicht
beizupflicht­en. Es geht vielmehr darum, welche Leis­tun­gen auf dem Markt
ange­boten wer­den und, bei mehreren, welche davon über­wiegt. In den
Bere­ichen Akqui­si­tion, Arbeitsvor­bere­itung und Abschluss fall­en weitere
wesentliche Arbeitss­chritte mit direk­tem Bezug zur eigentlichen
Bohrtätigkeit an. Selb­st wenn davon auszuge­hen wäre, dass es sich bei
den unter dem Punkt “Instal­la­tion Wärmetausch­er” erfassten Verrichtungen
(gemäss “Prozess­ablauf” u.a. Hin­ter­füllen der Sonde, Durch­fluss- und
Druck­prü­fung, Mon­tage des Verteil­ers bei Wärmepumpe, Anschluss der
Verbindungsleitun­gen, Befül­lung mit Wärmeträger­flüs­sigkeit) nicht um
einen inte­gri­eren­den Bestandteil der Bohrtätigkeit, son­dern um
eigen­ständig ange­botene Leis­tun­gen han­delte, ist der darauf entfallende
Anteil an Zeitaufwand und Umsatz deut­lich geringer. Eben­so liegt auf der
Hand, dass die Bohrun­gen an sich wesentlich höhere Investi­tio­nen als
die übri­gen Tätigkeit­en der Beschw­erdegeg­ner­in­nen erfordern. Zudem ist
nicht ersichtlich und wurde resp. wird nicht gel­tend gemacht, dass die
Beschw­erdegeg­ner­in­nen Aufträge aus­führen, die nicht mit Bohrarbeiten
ver­bun­den sind. Laut dem vom Ver­sicherungs­gericht des Kan­tons Solothurn
einge­holten Gutacht­en (vgl. BGE 125 V 351
E. 3b/aa S. 352 f.) des F.________, Dipl. Ing. ETH, vom 28. November
2011 muss denn auch das Ein­brin­gen der Erd­wärmeson­den, deren Prü­fung auf
Funk­tion­stüchtigkeit und das Ver­füllen des Bohrlochs in der Regel
unmit­tel­bar nach der Bohrung erfol­gen. Somit stellen die Erdbohrungen
für Erd­wärmeson­den und nicht die “Instal­la­tion Wärmetausch­er” resp.
deren Anschluss an die Wärmepumpe die prä­gen­den Tätigkeit­en in den
Betrieben der Beschw­erdegeg­ner­in­nen dar.

[…]

4.3.1 Auss­chlaggebend für die Frage, ob Betriebe wie
jene der Beschw­erdegeg­ner­in­nen in den betrieblichen Gel­tungs­bere­ich von
Art. 2 Abs. 4 AVE GAV FAR fall­en, ist die Ausle­gung dieser Bestimmung
(E. 3.2). Die Vorin­stanz hat zutr­e­f­fend darauf ver­wiesen, dass sich
dafür wed­er aus der (Nicht-)Unterstellung unter den Landesmantelvertrag
vom 13. Feb­ru­ar 1998 für das Bauhaupt­gewerbe (LMV; vgl. dazu E. 5.3.3)
noch aus der generellen Einord­nung ein­er Betrieb­sart durch die SUVA
etwas ableit­en lasse. Dies gilt auch für die von der SUVA für die
Beschw­erdegeg­ner­in­nen erstell­ten “Ver­sicherungsausweise
Beruf­sun­fal­lver­sicherung”: Sie betr­e­f­fen auss­chliesslich das
Rechtsver­hält­nis zwis­chen Unfal­lver­sicherung und Arbeitgeberin,
enthal­ten keine für die Ausle­gung sach­di­en­lichen Aus­führun­gen und sind
für das Gericht ohne­hin nicht bindend.
4.3.2 Die Begriffe “Erd­bohrung” oder
“Erd­wärmeson­den­bohrung” wer­den im Wort­laut von Art. 2 Abs. 4 AVE GAV FAR
nicht erwäh­nt. Der vorin­stan­zlichen Auf­fas­sung, wonach sich deshalb
eine Unter­stel­lung von Betrieben, deren prä­gende Tätigkeiten
Erd­wärmeson­den­bohrun­gen sind, nicht begrün­den lasse, ist indessen nicht
beizupflicht­en. Anders als das Plat­ten­legergewerbe, das typischerweise
dem Aus­bau und damit dem Baunebengewerbe zuzurech­nen ist und von
vorn­here­in keinem der in Art. 2 Abs. 4 AVE GAV FAR genan­nten Bereiche
zuge­ord­net wer­den kann (SZS 2010 S. 453, 9C_1033/2009 E. 2.5 und 2.9),
sind die hier fraglichen Betriebe vom Wort­laut erfasst, wenn sie in den
Bere­ich “Tief­bau” (Art. 2 Abs. 4 lit. a AVE GAV FAR) fallen.
Für die Frage nach dem Gehalt des Aus­drucks “Tief­bau”
ist nicht auf kan­tonales Ver­gaberecht abzustellen; als bundesrechtliche
Bes­tim­mung ist Art. 2 Abs. 4 lit. a AVE GAV FAR nach
gesamtschweiz­erischem Ver­ständ­nis auszule­gen (vgl. SZS 2010 S. 453,
9C_1033/2009 E. 2.7). Weit­er ist nicht von Belang, dass die Arbeit auch
“nach Fer­tig­stel­lung der Baute”, d.h. des an die Erdwärmesonden
anzuschliessenden Gebäudes, aus­ge­führt wer­den kann. Mit dieser
Argu­men­ta­tion wären auch etwa nachträgliche Grabungsar­beit­en zwecks
Neu­ver­legung von Wass­er- oder Strom­leitun­gen nicht dem Tiefbau
zuzurech­nen, was nicht der Fall ist. Zudem lässt sich das (ver­füllte)
Bohrloch sel­ber als “Baute” mit “tra­gen­der Struk­tur” auf­fassen, geht es
doch darum, Wärmeson­den sta­bil und sich­er im tiefen Erdre­ich zu
instal­lieren (vgl. etwa Norm 384/6, Erd­wärmeson­den, des Schweizerischen
Inge­nieur- und Architek­ten­vere­ins [SIA] S. 23 Ziff. 4.3).
Dass Erd­bohrun­gen im All­ge­meinen — von den natürlichen
Gegeben­heit­en her ganz offen­sichtlich — dem Tief­bau zuzurech­nen sind,
stellen auch die Beschw­erdegeg­ner­in­nen nicht in Abrede. Inwiefern sich
die Bohrtätigkeit für Erd­wärmeson­den in grund­sät­zlich­er Hin­sicht von
anderen Bohrun­gen mit ver­gle­ich­barem Durchmess­er (etwa für Sondierungen
oder für sog. Mikropfäh­le) unter­schei­den soll, ist nicht nachvollziehbar
und wird auch von den Beschw­erdegeg­ner­in­nen nicht einleuchtend
dargelegt. In Bezug auf den Arbeitsvor­gang sel­ber ist denn auch der
Bohrungszweck nicht von Belang. So wer­den etwa das Imlochham­mer- und das
Rota­tion­sspül- Bohrver­fahren (vgl. SIA-Norm 384/6, Erd­wärmeson­den, S.
65 f.) nicht nur für Erdwärmesonden‑, son­dern auch für Brunnenbohrungen
angewen­det (http://de.wikipedia.org/wiki/Bohrbrunnen, besucht am 25.
März 2013). Soweit Bohrun­gen der hier inter­essieren­den Art als Arbeiten
des “Spezialtief­baus” zu beze­ich­nen sind, ergibt sich aus dem
all­ge­meinen Sprachge­brauch, dass dieser eine Unterkat­e­gorie des
“Tief­baus” darstellt und somit vom Ober­be­griff ohne Weit­eres umfasst
wird.

[…]

4.3.5 Nach dem Gesagten sind Betriebe wie jene der
Beschw­erdegeg­ner­in­nen (vgl. E. 4.2.2) dem Bere­ich Tief­bau im Sinn von
Art. 2 Abs. 4 lit. a AVE GAV FAR zuzurech­nen und somit vom
(betrieblichen) Gel­tungs­bere­ich der all­ge­mein­verbindlich erklärten
Bes­tim­mungen des GAV FAR erfasst.