2C_794/2012: “Kopftuchverbot”; Schulreglement trotz Sonderstatusverhältnis keine genügende gesetzliche Grundlage (amtl. Publ.)

Das BGer hat­te im vor­liegen­den Urteil über die Zuläs­sigkeit eines Ver­bots an die Adresse der Schü­lerIn­nen, in der Schule u.a. ein Kopf­tuch zu tra­gen, zu befind­en. Die Schu­lord­nung der Sekun­darschule der Volkss­chul­ge­meinde Bür­glen enthält die fol­gende Regelung:

Schü­lerIn­nen besuchen sauber und anständig gekleidet
die Schule. Der ver­trauensvolle Umgang untere­inan­der bedeutet, dass die
Schule ohne Kopf­be­deck­ung besucht wird. Aus diesem Grund ist das Tragen
von Caps, Kopftüch­ern und Son­nen­brillen während der Schulzeit
untersagt.

Offen war zunächst die Bedeu­tung der Gemein­deau­tonomie für diese Frage.  Das BGer geste­ht den Gemein­den trotz des dicht­en Regel­w­erks im Bere­ich der Volkss­chule einen Autonomiebere­ich zu:

Die Beschw­erde­führerin ist […] kom­pe­tent, für ihre lokalen Ver­hält­nisse ein Schulreglement
zu erlassen und darf in diesem Rah­men auch Ordnungsvorschriften
vorse­hen, was ihr einen gewis­sen Grad an Entscheidungsspielraum
ein­räumt. Das enge Regel­w­erk des Kan­tons zum Volkss­chul­we­sen schliesst
die Gemein­deau­tonomie für diesen Bere­ich dem­nach nicht aus.

Da eine Ver­let­zung der Autonomie im Ergeb­nis verneint wurde, kon­nte das BGer offen­lassen, ob es sich bei der vor­liegen­den Regelung um einen Entscheidungsspielraum
han­delt, der “gemein­de­frei­heits­be­zo­gen” im Sinne der Recht­sprechung ist oder
ob es sich hier­bei um Vol­lzugsauf­gaben ohne rel­a­tiv erhebliche
Entschei­dungs­frei­heit
han­delt (auch wenn das BGer andeutet, dass eher let­zteres zutrifft). Die Unter­schei­dung wäre insofern rel­e­vant, als nur Regelun­gen, die “gemein­de­frei­heits­be­zo­gen” sind, qual­i­ta­tiv einen autonomiebe­grün­den­den Spiel­raum darstellen. Lediglich vol­lzugs­be­zo­gene Regelun­gen fall­en dage­gen nicht in den Autonomiebereich.

In der Sache stand ein Ein­griff in die Reli­gions­frei­heit zur Diskus­sion. Der Schutzbere­ich der Reli­gions­frei­heit umfasst den unmit­tel­baren Aus­druck der religiösen Überzeu­gung. Die Regelung der Volkss­chul­ge­meinde Bür­glen greift in diesen Bere­ich ein:

Entschei­dend für die Annahme eines Ein­griffs in den Schutzbere­ich ist dem­nach, dass die von den Schü­lerin­nen bzw. ihren Eltern angerufe­nen Ver­hal­tensweisen einen unmit­tel­baren Aus­druck ihrer religiösen Überzeu­gung bilden und dass sie dies glaub­haft darzule­gen ver­mö­gen […]. Die Schü­lerin­nen legten im vorin­stan­zlichen Ver­fahren dar, das Kopf­tuch aus religiösen Grün­den zu tra­gen; das Tra­gen des Kopf­tuch­es der Schü­lerin­nen als (her­anwach­sende) Frauen, die sich zum Islam beken­nen, ste­ht dem­nach — wie die Vorin­stanz zurecht fes­thält — als Aus­druck eines religiösen Beken­nt­niss­es unter dem Schutz der Reli­gions­frei­heit gemäss Art. 15 BV […]. Durch ein Ver­bot des Tra­gens des Kopf­tuch­es liegt ein Ein­griff in den Schutzbere­ich der Glaubens- und Gewis­sens­frei­heit der bei­den Schü­lerin­nen bzw. ihrer Eltern als Erziehungs­berechtigten vor. 

 Zu entschei­den war damit, ob die Ein­griffsvo­raus­set­zun­gen von BV 36 erfüllt sind. Die Vorin­stanz hat­te das Vor­liegen ein­er (aus­re­ichen­den) geset­zlichen Grund­lage verneint.Das BGer hält hierzu fest, dass es vor­lieend schw­eren Ein­griff in die Reli­gions­frei­heit geht und daher eine Grund­lage in einem Gesetz im formellen Sinn erforder­lich wäre:

Das generelle Ver­bot, das Kopf­tuch auf dem Schu­lare­al zu tra­gen, wirkt sich zudem — entsprechend der täglichen Präsenz in der Schule — mass­ge­blich auf den Leben­sall­t­ag der Beschw­erdegeg­ner­in­nen aus. Für die Schü­lerin­nen stellt daher ein generelles Ver­bot, das Kopf­tuch während des Unter­richts zu tra­gen, einen schw­eren Ein­griff in das Grun­drecht der Glaubens- und Gewis­sens­frei­heit dar […]. Das ver­fügte Ver­bot bedurfte dem­nach ein­er Grund­lage in einem formellen Gesetz.

Auch lässt sich der Ein­griff nicht aus den Zweckar­tikeln des Volkss­chulge­set­zes ableit­en. Infolgedessen waren die Anforderun­gen an die geset­zliche Grund­lage auch nicht durch das
Son­der­sta­tusver­hält­nis, in dem die betrof­fend­en Schü­lerin­nen zur Schule ste­hen, herabgesetzt:

Per­so­n­en­grup­pen, die in ein­er beson­ders engen Rechts­beziehung ste­hen, sind eben­falls in ihrer Glaubens- und Gewis­sens­frei­heit geschützt; die Anforderun­gen an Norm­stufe und Nor­mdichte der Ein­griff­s­grund­lage sind jedoch dann weniger streng, wenn Grun­drecht­sein­schränkun­gen infrage ste­hen, die sich in vorausse­hbar­er Weise aus dem Zweck des Son­der­sta­tusver­hält­niss­es ergeben […]

Nach den Zweckar­tikeln fördert die Schule die geisti­gen, seel­is­chen und kör­per­lichen Fähigkeit­en der Kinder; sie will die Kinder in Ergänzung zum Erziehungsauf­trag der Eltern nach christlichen Grund­sätzen und demokratis­chen Werten zu selb­st­ständi­gen, leben­stüchti­gen Per­sön­lichkeit­en und zu Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein gegenüber den Mit­men­schen und der Umwelt erziehen (§ 2 VSG/TG). Dabei soll namentlich die Chan­cen­gle­ich­heit angestrebt und den beson­deren Bedürfnis­sen der Kinder Rech­nung getra­gen wer­den (§ 4 VSG/TG). Gestützt auf diese Bes­tim­mungen und den Bes­tim­mungen zum Unter­richt und der Schulpflicht in § 30 ff. VSG/TG kann — vor dem Hin­ter­grund der Berechen­barkeit und Vorherse­hbarkeit staatlichen Han­delns sowie der rechts­gle­ichen Recht­san­wen­dung — kein Ver­bot des Tra­gens des Kopf­tuch­es aus religiösen Grün­den abgeleit­et wer­den; ins­beson­dere bleibt rechtlich, aber auch gesellschaft­spoli­tisch offen, ob die Chan­cen­gle­ich­heit mit­tels eines Kopf­tuchver­bots gewahrt oder ger­ade hier­durch beein­trächtigt wird […]. Die infrage ste­hen­den Grun­drechts­beschränkun­gen lassen sich nicht in vorherse­hbar­er Weise aus den genan­nten Zweckbes­tim­mungen (§ 2 und 4 VSG/TG) und den Zie­len des Son­der­sta­tusver­hält­niss­es herleiten.

Das Schul­re­gle­ment erfüllte fol­glich die Anforderun­gen an die geset­zliche Grund­lage nicht.

Das BGer äussert sich sodann zur Trag­weite und den Adres­sat­en des Neu­tral­itäts­ge­bots für öffentliche Schulen, das nicht für Schü­lerin­nen gilt:

Die Beschw­erde­führerin verken­nt überdies die Trag­weite und den Adres­sat­en des Neu­tral­itäts­ge­bots für öffentliche Schulen: Die Glaubens- und Gewis­sens­frei­heit enthält eine Verpflich­tung des Staates zu religiös­er und kon­fes­sioneller Neu­tral­ität […]; nie­mand darf gezwun­gen wer­den, eine religiöse Hand­lung vorzunehmen oder religiösem Unter­richt zu fol­gen […]. Der Grund­satz der Neu­tral­ität ver­bi­etet daher die Aus­rich­tung des Unter­richts zugun­sten oder zuun­gun­sten ein­er oder mehrerer Reli­gio­nen, da Überzeu­gun­gen der Lehrerin oder des Lehrers je nach Inten­sität und Alter der Kinder einen gewis­sen Ein­fluss auszuüben ver­mö­gen […]. Die öffentlichen Schulen und die für sie han­del­nden Lehrper­so­n­en sind somit zu Neu­tral­ität und kon­fes­sioneller Gle­ich­be­hand­lung verpflichtet, damit aber nicht (auch) die Benutzer: Im Gegen­satz zur Schule sind Schü­lerin­nen und Schüler — jeden­falls solange sie durch ihre Grun­drecht­sausübung die Grun­drechte Drit­ter nicht in unzuläs­siger Weise beein­trächti­gen — kein­er Neu­tral­ität­spflicht unterworfen […].