Das BGer hatte im vorliegenden Urteil über die Zulässigkeit eines Verbots an die Adresse der SchülerInnen, in der Schule u.a. ein Kopftuch zu tragen, zu befinden. Die Schulordnung der Sekundarschule der Volksschulgemeinde Bürglen enthält die folgende Regelung:
SchülerInnen besuchen sauber und anständig gekleidet
die Schule. Der vertrauensvolle Umgang untereinander bedeutet, dass die
Schule ohne Kopfbedeckung besucht wird. Aus diesem Grund ist das Tragen
von Caps, Kopftüchern und Sonnenbrillen während der Schulzeit
untersagt.
Offen war zunächst die Bedeutung der Gemeindeautonomie für diese Frage. Das BGer gesteht den Gemeinden trotz des dichten Regelwerks im Bereich der Volksschule einen Autonomiebereich zu:
Die Beschwerdeführerin ist […] kompetent, für ihre lokalen Verhältnisse ein Schulreglement
zu erlassen und darf in diesem Rahmen auch Ordnungsvorschriften
vorsehen, was ihr einen gewissen Grad an Entscheidungsspielraum
einräumt. Das enge Regelwerk des Kantons zum Volksschulwesen schliesst
die Gemeindeautonomie für diesen Bereich demnach nicht aus.
Da eine Verletzung der Autonomie im Ergebnis verneint wurde, konnte das BGer offenlassen, ob es sich bei der vorliegenden Regelung um einen Entscheidungsspielraum
handelt, der “gemeindefreiheitsbezogen” im Sinne der Rechtsprechung ist oder
ob es sich hierbei um Vollzugsaufgaben ohne relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit handelt (auch wenn das BGer andeutet, dass eher letzteres zutrifft). Die Unterscheidung wäre insofern relevant, als nur Regelungen, die “gemeindefreiheitsbezogen” sind, qualitativ einen autonomiebegründenden Spielraum darstellen. Lediglich vollzugsbezogene Regelungen fallen dagegen nicht in den Autonomiebereich.
In der Sache stand ein Eingriff in die Religionsfreiheit zur Diskussion. Der Schutzbereich der Religionsfreiheit umfasst den unmittelbaren Ausdruck der religiösen Überzeugung. Die Regelung der Volksschulgemeinde Bürglen greift in diesen Bereich ein:
Entscheidend für die Annahme eines Eingriffs in den Schutzbereich ist demnach, dass die von den Schülerinnen bzw. ihren Eltern angerufenen Verhaltensweisen einen unmittelbaren Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung bilden und dass sie dies glaubhaft darzulegen vermögen […]. Die Schülerinnen legten im vorinstanzlichen Verfahren dar, das Kopftuch aus religiösen Gründen zu tragen; das Tragen des Kopftuches der Schülerinnen als (heranwachsende) Frauen, die sich zum Islam bekennen, steht demnach — wie die Vorinstanz zurecht festhält — als Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses unter dem Schutz der Religionsfreiheit gemäss Art. 15 BV […]. Durch ein Verbot des Tragens des Kopftuches liegt ein Eingriff in den Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit der beiden Schülerinnen bzw. ihrer Eltern als Erziehungsberechtigten vor.
Zu entscheiden war damit, ob die Eingriffsvoraussetzungen von BV 36 erfüllt sind. Die Vorinstanz hatte das Vorliegen einer (ausreichenden) gesetzlichen Grundlage verneint.Das BGer hält hierzu fest, dass es vorlieend schweren Eingriff in die Religionsfreiheit geht und daher eine Grundlage in einem Gesetz im formellen Sinn erforderlich wäre:
Das generelle Verbot, das Kopftuch auf dem Schulareal zu tragen, wirkt sich zudem — entsprechend der täglichen Präsenz in der Schule — massgeblich auf den Lebensalltag der Beschwerdegegnerinnen aus. Für die Schülerinnen stellt daher ein generelles Verbot, das Kopftuch während des Unterrichts zu tragen, einen schweren Eingriff in das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit dar […]. Das verfügte Verbot bedurfte demnach einer Grundlage in einem formellen Gesetz.
Auch lässt sich der Eingriff nicht aus den Zweckartikeln des Volksschulgesetzes ableiten. Infolgedessen waren die Anforderungen an die gesetzliche Grundlage auch nicht durch das
Sonderstatusverhältnis, in dem die betroffenden Schülerinnen zur Schule stehen, herabgesetzt:
Personengruppen, die in einer besonders engen Rechtsbeziehung stehen, sind ebenfalls in ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit geschützt; die Anforderungen an Normstufe und Normdichte der Eingriffsgrundlage sind jedoch dann weniger streng, wenn Grundrechtseinschränkungen infrage stehen, die sich in voraussehbarer Weise aus dem Zweck des Sonderstatusverhältnisses ergeben […]
Nach den Zweckartikeln fördert die Schule die geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten der Kinder; sie will die Kinder in Ergänzung zum Erziehungsauftrag der Eltern nach christlichen Grundsätzen und demokratischen Werten zu selbstständigen, lebenstüchtigen Persönlichkeiten und zu Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Umwelt erziehen (§ 2 VSG/TG). Dabei soll namentlich die Chancengleichheit angestrebt und den besonderen Bedürfnissen der Kinder Rechnung getragen werden (§ 4 VSG/TG). Gestützt auf diese Bestimmungen und den Bestimmungen zum Unterricht und der Schulpflicht in § 30 ff. VSG/TG kann — vor dem Hintergrund der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns sowie der rechtsgleichen Rechtsanwendung — kein Verbot des Tragens des Kopftuches aus religiösen Gründen abgeleitet werden; insbesondere bleibt rechtlich, aber auch gesellschaftspolitisch offen, ob die Chancengleichheit mittels eines Kopftuchverbots gewahrt oder gerade hierdurch beeinträchtigt wird […]. Die infrage stehenden Grundrechtsbeschränkungen lassen sich nicht in vorhersehbarer Weise aus den genannten Zweckbestimmungen (§ 2 und 4 VSG/TG) und den Zielen des Sonderstatusverhältnisses herleiten.
Das Schulreglement erfüllte folglich die Anforderungen an die gesetzliche Grundlage nicht.
Das BGer äussert sich sodann zur Tragweite und den Adressaten des Neutralitätsgebots für öffentliche Schulen, das nicht für Schülerinnen gilt:
Die Beschwerdeführerin verkennt überdies die Tragweite und den Adressaten des Neutralitätsgebots für öffentliche Schulen: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit enthält eine Verpflichtung des Staates zu religiöser und konfessioneller Neutralität […]; niemand darf gezwungen werden, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen […]. Der Grundsatz der Neutralität verbietet daher die Ausrichtung des Unterrichts zugunsten oder zuungunsten einer oder mehrerer Religionen, da Überzeugungen der Lehrerin oder des Lehrers je nach Intensität und Alter der Kinder einen gewissen Einfluss auszuüben vermögen […]. Die öffentlichen Schulen und die für sie handelnden Lehrpersonen sind somit zu Neutralität und konfessioneller Gleichbehandlung verpflichtet, damit aber nicht (auch) die Benutzer: Im Gegensatz zur Schule sind Schülerinnen und Schüler — jedenfalls solange sie durch ihre Grundrechtsausübung die Grundrechte Dritter nicht in unzulässiger Weise beeinträchtigen — keiner Neutralitätspflicht unterworfen […].