2C_121/2015: Ein Kopftuchverbot für eine öffentliche Schule ist unverhältnismässig und stellt damit einen Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit dar, welcher nicht gerechtfertigt werden kann (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Entscheid vom 11. Dezem­ber 2015 äusserte sich das BGer zur Frage, ob Autonomie der Schul­ge­meinde für den Erlass und die Anwen­dung ein­er Regelung beste­ht, die das Tra­gen von Kopf­be­deck­un­gen jeglich­er Art während des Unter­richts unter­sagt. Am ersten Schul­t­ag nach den Som­mer­fe­rien erschien ein im Jahr 2001 geborenes Mäd­chen in Begleitung ihrer Mut­ter in der Schule St. Mar­grethen und trug ein islamis­ches Kopf­tuch, welch­es das Haar und den Hals bedeckt (Hijab). Die Schulleitung wies Mut­ter und Tochter auf die Schu­lord­nung der Schul­ge­meinde St. Mar­grethen hin, die das Tra­gen von Kopf­be­deck­ung jeglich­er Art während des Unter­richts unter­sagt. Sodann wurde dem Vater der Schü­lerin anlässlich eines Gesprächs eine Ver­fü­gung aus­ge­händigt, in welch­er fest­ge­hal­ten wurde, dass für die Schü­lerin keine Aus­nahme vom Kopf­tuchver­bot gelte. Nach­dem das Ver­wal­tungs­gericht des Kan­tons St. Gallen eine Beschw­erde der Eltern der Schü­lerin guthiess, gelangte der Schul­rat St. Mar­grethen an das BGer, welche die Beschw­erde abweist. 

Das BGer äussert sich zunächst zum Schutzbere­ich der in Art. 15 BV normierten Glaubens- und Gewis­sens­frei­heit und hält fest, dass die von Art. 15 Abs. 2 und 3 BV gewährleis­tete Reli­gion­sausübung über den Neu­tral­itäts­grund­satz des Staats und kul­tische Hand­lun­gen hin­aus die Beach­tung religiös­er Gebräuche und Gebote sowie andere Äusserun­gen des religiösen Lebens, soweit solche Ver­hal­tensweisen Aus­druck der religiösen Überzeu­gung bilden, schützt. Sodann macht das BGer die fol­gende Ergänzung:

Das gilt auch für Reli­gions­beken­nt­nisse, welche die auf den Glauben gestützten Ver­hal­tensweisen sowohl auf das geistig-religiöse Leben wie auch auf weit­ere Bere­iche des alltäglichen Lebens beziehen […]; auch religiös motivierte Bek­lei­dungsvorschriften sind vom Schutz von Art. 15 BV erfasst […]. Das aus Art. 15 Abs. 4 BV abgeleit­ete Gle­ich­be­hand­lungs­ge­bot umfasst fol­gerichtig auch Bek­lei­dung, die mit Reli­gio­nen in Verbindung gebracht wird, wie neben dem Kopf­tuch etwa die jüdis­che Kip­pa oder das Habit christlich­er Ordenss­chwest­ern und ‑brüder oder Sym­bole wie sicht­bar getra­gene Kreuze […] (E. 3.6.).

Da das Ver­bot des Tra­gens des Kopf­tuchs einen Ein­griff in den Schutzbere­ich der Glaubens- und Gewis­sens­frei­heit der Schü­lerin bzw. ihrer Eltern als Erziehungs­berechtigten bewirke, prüft das BGer in einem weit­eren Schritt, inwiefern dieser Ein­griff anhand der Grund­sätze von Art. 36 BV gerecht­fer­tigt wer­den kann. Im Zen­trum ste­ht dabei Art. 36 Abs. 2 BV, wonach Ein­schränkun­gen von Grun­drecht­en durch ein öffentlich­es Inter­esse oder durch den Schutz von Grun­drecht­en Drit­ter gerecht­fer­tigt sein müssen.

Das öffentliche Inter­esse an einem kon­fes­sionell neu­tralen Bil­dungsauf­trag der Schulen könne dabei — so das BGer — vom Beschw­erde­führer nicht angerufen wer­den, da die Schü­lerin kein­er Neu­tral­ität­spflicht unter­wor­fen sei und mit der Zulas­sung des Tra­gens eines religiösen Sym­bols durch die Schü­lerin keine Iden­ti­fizierung der öffentlichen Schule mit einem bes­timmten Glauben ver­bun­den sei.

Das­selbe gelte für das öffentliche Inter­esse an einem geord­neten und störungs­freien Schul­be­trieb. Da das Tra­gen des Kopf­tuchs als solch­es kein “rück­sicht­slos­es Ver­hal­ten” darstelle und die Kom­mu­nika­tion der Schü­lerin mit den Lehrper­so­n­en durch den Hijab in kein­er Weise beein­trächtigt sei, sei das Kopf­tuchver­bot nicht geeignet, einen geord­neten Schul­be­trieb zu erreichen.

Schliesslich ver­let­ze eine Schü­lerin mit Kopf­tuch auch nicht die neg­a­tive Reli­gions­frei­heit der Mitschüler (Grun­drechte Drit­ter), denn vom Tra­gen der Kopf­be­deck­ung allein — und dies gelte entsprechend auch für andere religiöse Sym­bole — gehe kein wer­ben­der oder mis­sion­ar­isch­er Effekt aus und ein Zwang für andere Schüler, in eine religiöse Hand­lung ein­be­zo­gen zu wer­den, liege durch das Tra­gen eines Kopf­tuchs durch eine Mitschü­lerin nicht vor. 

Vor diesem Hin­ter­grund erweise sich in ein­er öffentlichen Schule, die für athe­is­tis­che aber auch ver­schiedene religiöse Beken­nt­nisse offen ist, das Kopf­tuchver­bot als unverhältnismässig.