5A_478/2013: “Eigenes Fachwissen” des Gerichts; frühzeitige Offenlegung, Verletzung des rechtlichen Gehörs

Die ZPO 183 III kod­i­fiziert indi­rekt den bere­its früher gel­tenden Grund­satz, dass das Gericht sein­er Entschei­dung “eigenes Fach­wis­sen” zugrunde leg­en darf:

4.1. Das Gericht kann auf Antrag ein­er Partei oder von Amtes wegen bei ein­er oder mehreren sachver­ständi­gen Per­so­n­en ein Gutacht­en ein­holen (Art. 183 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das gerichtliche Gutacht­en ver­schafft dem Gericht die Fachken­nt­nisse, die es benötigt, um bes­timmte recht­ser­he­bliche Tat­sachen wahrnehmen und/oder beurteilen zu kön­nen […].  [Aus­führun­gen zum gerichtlichen Umgang mit Gutacht­en].
Freilich kann das Gericht auch seinen eige­nen Sachver­stand nutzen und auf die Ein­hol­ung eines Gutacht­ens verzicht­en, wenn es auf­grund sein­er Beset­zung selb­st über die — den Anforderun­gen des konkreten Fall­es genü­gende — Sachkunde ver­fügt, um bes­timmte Aspek­te des Sachver­halts fest­stellen und/oder würdi­gen zu kön­nen. Dies hat das Bun­des­gericht schon vor Inkraft­treten der Schweiz­erischen Zivil­prozes­sor­d­nung fest­ge­hal­ten  […]. Den Grund­satz, dass sich der Beizug von Sachver­ständi­gen erübrigt, wenn ein mitwirk­endes Gerichtsmit­glied über das erforder­liche Erfahrungswis­sen ver­fügt, hat der Geset­zge­ber nun in Art. 183 Abs. 3 ZPO kod­i­fiziert […].

Zu den erforder­lichen Eigen­schaften des “Fach­wis­sens” äussert sich das BGer im vor­liegen­den Urteil wie folgt:

Mit dem Aus­druck “Fach­wis­sen” fordert das Gesetz beson­dere, über die all­ge­meine Lebenser­fahrung hin­aus­ge­hende Sachken­nt­nisse, wozu typ­is­che Branchenken­nt­nisse, nicht mehr all­ge­mein ver­ständliche wirtschaftliche und tech­nis­che Erfahrungssätze, ins­beson­dere wis­senschaftliche Erfahrungssätze, gehören […]. 

Der Anspruch auf rechtlich­es Gehör stellt dabei fol­gende Anforderungen: 

Will sich das Gericht auf solche eigene Ken­nt­nisse stützen, muss es dies trans­par­ent deklar­i­eren. Um das rechtliche Gehör der Parteien zu wahren, hat die Offen­le­gung frühzeit­ig zu erfol­gen, nicht etwa erst im Rah­men der Urteils­ber­atung oder gar ‑eröff­nung. Damit die Parteien die Möglichkeit erhal­ten, entsprechend zu reagieren, muss ihnen das richter­liche Fach­wis­sen umge­hend offen gelegt wer­den, das heisst sobald es im Beweisver­fahren eine Rolle zu spie­len begin­nt […]. Zu diesem Zweck muss das Fach­wis­sen — bzw. das “Fachvo­tum” eines bes­timmten Gerichtsmit­glieds — mündlich oder schriftlich in den Prozess einge­führt und zu den Akten erhoben wer­den. Nur so kann sichergestellt wer­den, dass die Parteien nicht schlechtergestellt sind, als wenn das Gericht ein Sachver­ständi­gengutacht­en einge­holt hätte […].

Dieses Erforder­nis frühzeit­iger Offen­le­gung hat­te das OGer SO hier im Zusam­men­hang mit ein­er Liegen­schaften­schätzung ver­let­zt:

[…] Angesichts dessen musste dem Oberg­ericht die Überzeu­gungskraft der gutachter­lichen Verkehr­swertschätzung als ern­sthaft erschüt­tert erscheinen. Entsprechend hätte das Oberg­ericht […] Grund gehabt, zur Klärung sein­er Zweifel ergänzende Beweise zu erheben, umso mehr, als seine Vor­be­halte gegenüber der Schätzung des Experten offen­sichtlich inhaltlich­er Natur sind. Denn inhaltliche Män­gel eines Gutacht­ens kann das Gericht nur aus­nahm­sweise selb­st richtig­stellen, näm­lich dann, wenn es selb­st über das notwendi­ge Fach­wis­sen ver­fügt (E. 4.1); bei Zweifeln an der Überzeu­gungskraft eines Sachver­ständi­gen­be­funds ist die Ein­hol­ung eines weit­eren Gutacht­ens in der Regel unumgänglich […]. Wie auch die Beschw­erdegeg­ner­in fest­stellt, schre­it­et das Oberg­ericht denn auch sogle­ich zur Tat und ermit­telt den Verkehr­swert nach ein­er eige­nen Meth­ode […] . Damit aber set­zt es unweiger­lich seinen eige­nen Sachver­stand an die Stelle desjeni­gen des Experten F., legt sein­er Beweiswürdi­gung mit anderen Worten eigenes Fach­wis­sen zugrunde. Dies für die Parteien erst im Rah­men der Eröff­nung des begrün­de­ten Urteils erkennbar zu machen, lässt sich nach dem Gesagten nicht mit dem Anspruch der Parteien auf rechtlich­es Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) vere­in­baren und ver­stösst gegen die aus­drück­liche Vorschrift von Art. 183 Abs. 3 ZPO […].