1C_59/2012, 1C_61/2012: Das gemischte Wahlsystem für die Kantonsratswahlen im Kanton Appenzell A. Rh. ist bundesverfassungskonform (amtl. Publ.)

Im Urteil vom 26. Sep­tem­ber 2014 äussert sich das BGer zur Zuläs­sigkeit eines gemis­cht­en Wahlsys­tems für die Kan­ton­sratswahlen im Kan­ton Appen­zell A. Rh. Die Gesamterneuerungswahl des Kan­ton­srats des Kan­tons Appen­zell A. Rh. fan­den am 3. April 2011 statt. Am 6. April 2011 gelangte Tim Walk­er an den Regierungsrat mit dem Antrag, das Resul­tat der Kan­ton­sratswahl aufzuheben. Als Begrün­dung führte er an, dass das Wahlsys­tem ver­fas­sungswidrig sei, da in allen Wahlkreisen des Kan­tons — abge­se­hen vom Wahlkreis Herisau — das Majorzver­fahren zur Anwen­dung komme. Sowohl der Regierungsrat als auch das BGer weisen die Beschw­erde von Tim Walk­er ab.

Zunächst ruft das BGer die Unter­schiede in Erin­nerung zwis­chen Majorzwahlver­fahren, Pro­porzwahlver­fahren und gemis­chtem Wahlsystem:

Beim Majorz- oder Mehrheitswahlver­fahren fall­en die zu vergeben­den Par­la­mentssitze den Per­so­n­en mit der grössten Stim­men­zahl zu. Pro Wahlkreis kön­nen ein Man­dat oder mehrere Man­date vergeben wer­den. Je nach Aus­gestal­tung der Wahlord­nung ist für eine Wahl das absolute Mehr (mehr als die Hälfte der abgegebe­nen Stim­men) oder das rel­a­tive Mehr (Erre­ichen der höch­sten Stim­men­zahlen) erforder­lich (E. 6.1).

Im Unter­schied dazu  wer­den beim Pro­porz- oder Ver­hält­niswahlsys­tem die Par­la­mentssitze auf ver­schiedene Parteien und Grup­pierun­gen im Ver­hält­nis ihres Wäh­ler­an­teils verteilt. Die Wäh­lerin­nen und Wäh­ler geben ihre Stimme ein­er Liste, auf der die Namen mehrerer Kan­di­dat­en ste­hen. Danach wer­den die Man­date pro­por­tion­al zur Stärke der an der Wahl beteiligten Parteien und Grup­pierun­gen verteilt (E. 6.2).  

Das anwend­bare Recht kann ein gemis­cht­es Wahlsys­tem vorse­hen, welch­es Ele­mente sowohl des Majorz- als auch des Pro­porzprinzips enthält.  Denkbar ist beispiel­sweise, dass in den Wahlkreisen jew­eils ein Sitz nach dem Majorzprinzip vergeben wird, während allfäl­lige weit­ere Sitze pro­por­tion­al verteilt wer­den. Von einem gemis­cht­en Wahlsys­tem wird auch gesprochen, wenn in eini­gen Wahlkreisen das Pro­porzwahlver­fahren angewen­det wird, während in anderen Wahlkreisen des gle­ichen Gemein­we­sens das Majorzprinzip zum Zug kommt […] (E. 6.3).

Sodann nimmt das BGer Bezug auf Art. 34 BV, welch­er bei der Aus­gestal­tung des Ver­fahrens für die Wahl der kan­tonalen Par­la­mente eine bedeu­tende Schranke darstelle. Die Wahlrechts­gle­ich­heit, welche Bestandteil von Art. 34 BV sei, lasse sich in drei Teil­ge­halte unterteilen:

  • Die Zählw­ert­gle­ich­heit bedeutet, dass alle Stim­men formell gle­ich behan­delt wer­den. Alle Wäh­ler des­sel­ben Wahlkreis­es ver­fü­gen über die gle­iche Zahl von Stim­men, haben die gle­ichen Möglichkeit­en zur Stim­ma­b­gabe und alle gültig abgegeben Stim­men wer­den bei der Auszäh­lung gle­ich berücksichtigt.
  • Die Stimmkraft- oder Stim­mgewichts­gle­ich­heit garantiert jedem Wäh­ler, dass seine Stimme nicht nur gezählt, son­dern gle­ich wie alle anderen Stim­men ver­w­ertet wird. Das Ver­hält­nis zwis­chen der repräsen­tierten Bevölkerung und der zugeteil­ten Sitz­zahl soll in den einzel­nen Wahlkreisen möglichst gle­ich sein.
  • Die Erfol­gswert­gle­ich­heit soll sich­er­stellen, dass allen Stim­men der­selbe Erfolg zukommt, d.h. dass sie materiell und in gle­ich­er Weise zum Wahlergeb­nis beitra­gen und bei der Man­datsverteilung berück­sichtigt wer­den. Die Erfol­gswert­gle­ich­heit hat wahlkreisüber­greifend­en Charak­ter, denn sie bed­ingt auch eine inner­halb des gesamten Wahlge­bi­ets gle­iche Ver­wirk­lichung des Erfolgswerts. 

Das BGer führt weit­er aus, dass dem Prinzip der Wahlrechts­gle­ich­heit nicht nur Pro­porz- und Majorzwahlver­fahren zu genü­gen hät­ten, son­dern auch Wahlen nach dem Mis­chsys­tem. Das Majorzver­fahren begün­stige die Wahl stark­er Per­sön­lichkeit­en. Es ste­he aber in einem gewis­sen Wider­spruch zur Wahlrechts­gle­ich­heit, da sich die Erfol­gswert­gle­ich­heit nicht ver­wirk­lichen liesse. Dies bedeute indessen noch nicht, dass eine Wahlord­nung, in welch­er die Mit­glieder eines kan­tonalen Par­la­ments nach dem Majorzprinzip gewählt wür­den, mit der Bun­desver­fas­sung unvere­in­bar wären. Vielmehr liesse sich eine Ein­schränkung der Wahlrechts­gle­ich­heit durch sach­liche Gründe rechtfertigen:

Zusam­men­fassend ist festzuhal­ten, dass sich die Wahlrechts­gle­ich­heit, welche mit der Anwen­dung des Majorzprinzips in 19 von 20 Wahlkreisen für die Wahl des Kan­ton­srats 2011 ver­bun­den war, auf­grund der konkreten Umstände sach­lich recht­fer­ti­gen lässt. Als nachvol­lziehbare sach­liche Gründe für die Zuläs­sigkeit des bish­eri­gen gemis­cht­en Wahlsys­tems zu erwäh­nen sind die grosse Autonomie der die Wahlkreise bilden­den Gemein­den, die geringe durch­schnit­tliche Bevölkerungszahl in den nach dem Majorzprinzip wäh­len­den Gemein­den, der rel­a­tiv geringe Stel­len­wert der poli­tis­chen Parteien im Kan­ton bzw. in den Gemein­den sowie daran anknüpfend die unter­ge­ord­nete Bedeu­tung der Zuge­hörigkeit der Kan­di­dat­en zu ein­er bes­timmten Partei für den Entscheid der Wäh­ler in den nach dem Majorzprinzip wäh­len­den Gemein­den (E. 12.6). 

Das BGer kommt deshalb zum Schluss, dass das im Kan­ton Appen­zell A. Rh. für die Kan­ton­sratswahlen 2011 ange­wandte gemis­chte Wahlsys­tem bun­desver­fas­sungskon­form sei.