Die Geschädigte war im Alter von vierzehn Monaten in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Sie befand sich unter einem Lieferwagen und wurde beim Anfahren auf der Höhe des Kopfes von ein oder zwei Rädern überrollt. Die Geschädigte erlitt schwerste Hirnverletzungen, bedarf dauernder Pflege und wird nie eine Erwerbstätigkeit aufnehmen können. Im Zivilprozess gegen die Haftpflichtversicherung war insbesondere die Berechnung bzw. Schätzung des künftigen Erwerbsausfallschadens umstritten (Urteil 4A_260/2014 vom 8. September 2014).
Das Handelsgericht des Kantons Zürich gelangte zur Auffassung, da weder anhand einer bereits angefangenen Ausbildung noch aufgrund der schulischen Leistungen oder den Interessen der Geschädigten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte mutmassliche künftige Erwerbstätigkeit festgestellt werden könne, müsse auf statistische Werte abgestellt werden. Das Handelsgericht stellte daher auf die statistischen Werte des Bundesamtes für Statistik zum durchschnittlichen Lohn und Beschäftigungsgrad von Frauen nach Lebensalter ab, soweit die Geschädigte nicht weniger verlangte oder beide Parteien über diese Werte hinausgingen (E. 2).
Auf entsprechende Rügen der Geschädigten hin (E. 2.1) hob das Bundesgericht den handelsgerichtlichen Entscheid indessen auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung zurück (E. 9). Das Bundesgericht ergriff die Gelegenheit und legte eine ganze Reihe von Grundsätzen zur Berechnung bzw. Schätzung des künftigen Erwerbsausfallschadens nach Art. 46 Abs. 1 OR i.V.m. Art. 62 Abs. 1 SVG sowie einige wichtige prozessuale Grundsätze dar.
Das Bundesgericht hielt folgende Grundsätze fest:
- Soweit Schlussfolgerungen ausschliesslich auf der allgemeinen Lebenserfahrung beruhen, können diese durch das Bundesgericht wie Rechtssätze frei überprüft werden (E. 2.3). Inwieweit Indizien Rückschlüsse zulassen, dass die Geschädigte ohne Unfall die eine oder andere Berufskarriere eingeschlagen hätte, bleibt indessen eine Frage der Beweiswürdigung im Einzelfall und ist der freien Überprüfung durch das Bundesgericht entzogen (E. 3.1).
- Die kantonalen Gerichte sind nicht gehalten, sämtliche Studien und Statistiken zu kennen, die für die Entscheidung des Falles massgeblich sein könnten. Soweit deshalb das Gericht den Parteien Gelegenheit gibt, zu Statistiken Stellung zu nehmen, trifft die Parteien eine prozessuale Obliegenheit, soweit möglich und zumutbar sämtliche Einwände gegen die statistischen Werte bereits in diesem Zeitpunkt vorzutragen. Vor Bundesgericht können sich die Parteien aufgrund von Art. 99 BGG nicht mehr auf andere Statistiken berufen oder neue Einwände erheben (E. 2.3).
- Der künftige Erwerbsausfallschaden (Invaliditätsschaden) ist so weit wie möglich konkret zu berechnen (E. 3.1). Erleidet ein Kind eine Körperverletzung mit bleibenden Folgen, ist der künftige Erwerbsausfall nur schwer abzuschätzen. Das darf das Gericht jedoch nicht davon abhalten, diese Schätzung unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände trotzdem vorzunehmen. Die verbleibende Ungewissheit darf sich dabei nicht zu Ungunsten des Geschädigten auswirken, sondern muss vom Haftpflichtigen in Kauf genommen werden (E. 3.2). Die Auffassung, wonach aufgrund der vielen Unbekannten nach der allgemeinen Lebenserfahrung nur auf statistische Durchschnittswerte abzustellen ist, erweist sich deshalb gemäss Bundesgericht als problematisch (E. 3.3).
- Gemäss Bundesgericht kann bei der Schätzung des künftigen Erwerbsausfallschadens auf den Werdegang der Geschwister und Eltern abgestellt werden, also das soziale Milieu der Geschädigten. Dies treffe umso mehr zu, wenn mehrere Geschwister äquivalente Ausbildungen absolviert haben (E. 3.3). Abzustellen ist aber nicht auf die beste überhaupt denkbare Entwicklung für die Geschädigte, sondern darauf, welches Einkommen mit der in der Familie üblichen Ausbildung wahrscheinlich zu erzielen ist. Dazu ist auf konkrete Indizien abzustellen, die auf ein solches Einkommen hindeuten (E. 3.4).
- Aus einer äquivalenten Ausbildung mehrerer Geschwister kann zwar mit einer gewissen Zuverlässigkeit auf die wahrscheinliche Ausbildung der Geschädigten geschlossen werden. Mit zunehmenden Alter treten indessen persönliche Unterschiede hervor (unterschiedlicher schulischer Werdegang, anderweitige Interessen), die sich in einer anderen Berufswahl niederschlagen können (E. 3.4.4).
- In Bezug auf den Beschäftigungsgrad kann gemäss Bundesgericht aus der Tatsache, dass ein gewisser Prozentsatz der Arbeitnehmerinnen sich aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse eine Reduktion der Arbeitstätigkeit leisten kann und von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, nicht geschlossen werden, eine durchschnittlich verdienende Person würde sich wahrscheinlich zu einer Reduktion ihrer Arbeitstätigkeit auf den durchschnittlichen Beschäftigungsgrad entschliessen. Das Handelsgericht stellte daher willkürlich auf den durchschnittlichen Beschäftigungsgrad ab. Zu prüfen wäre gewesen, ob durch die Reduktion auf den durchschnittlichen Beschäftigungsgrad der damit einhergehende Verdienstausfall von der Geschädigten wahrscheinlich in Kauf genommen worden wäre oder ob sie aufgrund erheblicher Abstriche in der Lebensführung auf eine Reduktion des Beschäftigungsgrades verzichtet hätte (vgl. zum Ganzen E. 5.2).
- Wer eine Reduktion des Beschäftigungsgrades bzw. Einkommens nach dem 25. Lebensjahr geltend machen will, muss zumindest substantiiert behaupten, die Geschädigte hätte bei dem für sie berechneten Einkommen aufgrund der dadurch anzunehmenden Vermögensverhältnisse wahrscheinlich auch ohne Heirat und den entsprechenden Beitrag des Ehegatten an den Unterhalt das ursprüngliche Vollpensum reduziert oder aber bei einer Heirat auch trotz Unterhaltsbeitrag des Ehegatten eine Einbusse in der Lebensführung im Vergleich zur Situation mit voller Erwerbstätigkeit hinnehmen müssen (E. 5.3.1).
- Bezüglich Reallohnsteigerungen hält das Bundesgericht fest, dass individuelle Reallohnsteigerungen infolge Veränderung der persönlichen Eigenschaften (Alter, steigende Berufserfahrung) und die allgemeine Reallohnsteigerung infolge Veränderung des allgemeinen Lohnniveaus auseinander zu halten und kumulativ zu berücksichtigen sind. Vorausgesetzt ist jedoch, dass die Löhne in der Realität tatsächlich beiden Steigerungen kumulativ unterliegen. Das Bundesgericht hat angenommen, beim Erwerbsausfall könne nicht von einer generellen Reallohnerhöhung, aber regelmässig von individuellen Reallohnsteigerungen ausgegangen werden (E. 6.1).
- Das Bundesgericht hält am Kapitalisierungszinssatz von 3.5 % fest (E. 7). Der Entscheid erging allerdings vor der Aufhebung des Euro-Mindestkurses im Januar 2015, weshalb offen ist, ob das Bundesgericht auch künftig an diesem Zinssatz festhalten wird. Gemäss Bundesgericht genügt es jedenfalls nicht aufzuzeigen, dass mit einer konservativen Anlagestrategie derzeit allenfalls eine nicht dem Kapitalisierungszinssatz entsprechende Rendite erreicht werden kann. Entscheidend ist, ob dies auch langfristig nicht möglich ist (E. 7.2).
- Gemäss Bundesgericht ist nicht auf einen diskriminierungsfreien Lohn abzustellen, wenn davon ausgegangen werden muss, die Geschädigte hätte trotz ihres verfassungsrechtlichen Anspruchs kein derartiges Einkommen erzielt. Dass die Verfassung einen Anspruch auf diskriminierungsfreien Lohn garantiert, ist haftpflichtrechtlich nicht massgebend (E. 8.1).