Im zur amtlichen Publikation vorgesehenen Urteil vom 6. November 2015 befasste sich das BGer mit der Zulässigkeit der Einschränkung der Prozessberichterstattung im Zusammenhang mit dem sogenannten “Kristallnacht-Twitterer”. Am 19. Mai 2014 fand am Bezirksgericht Uster die Hauptverhandlung im Prozess gegen C. statt, welchem die Staatsanwaltschaft u.a. vorwarf, über die Online-Kommunikationsplattform Twitter die Nachricht “Vielleicht brauchen wir wieder einmal eine Kristallnacht … diesmal für Moscheen.” verbreitet zu haben. Zu Beginn der Verhandlung eröffnete der zuständige Einzelrichter den anwesenden Medienvertretern mündlich eine Verfügung mit folgendem Wortlaut:
1. Den Gerichtsberichterstattern bzw. Medienvertretern wird die Auflage erteilt, die Anonymität der beschuldigten Person wie folgt zu wahren: In einer allfälligen Berichterstattung wird untersagt; a) den Namen der beschuldigten Person zu nennen; b) Fotos der beschuldigten Person zu publizieren; und c) Alter, Wohnort, Arbeitgeber und die Adresse des Internetblogs der beschuldigten Person zu publizieren.
2. Gerichtsberichterstatter bzw. Medienvertreter, welche die Anordnung gemäss Ziffer 1 vorstehend missachten, können mit Ordnungsbusse bis zu Fr. 1’000.– bestraft werden. § 12 der Akteneinsichtsverordnung der obersten Gerichte (LS 211.15) bleibt vorbehalten.
Zwei Gerichtsberichterstatterinnen zogen die Anordnungen des Bezirksgerichts Uster bis vor BGer, welches die Beschwerde in Strafsachen gutheisst.
Laut BGer stelle das Verbot, bestimmte Informationen über den “Kristallnacht-Twitterer” zu publizieren, einen Eingriff in die Medienfreiheit (Art. 17 BV) dar, wobei die Frage aufgeworfen werden müsse, ob es sich um einen leichten oder schweren Eingriff handle. Das BGer lässt die Frage schlussendlich offen, hält aber zumindest fest, dass die folgenden Umstände für einen schweren Eingriff sprächen:
- Den Gerichtsberichterstattern kommt gegenüber dem übrigen Prozesspublikum normalerweise eine privilegierte Stellung zu. Vorliegend werden sie aber schlechter gestellt.
- Der “Kristallnacht-Twitterer” ist eine (relative) Person der Zeitgeschichte.
- Bei einer Ordnungsbusse von Fr. 1’000.– handelt es sich um einen ansehnlichen Betrag mit abschreckender Wirkung.
Das BGer kommt zum Schluss, dass selbst bei einem leichten Eingriff in die Medienfreiheit kein Gesetz im materiellen Sinn (Art. 36 Abs. 1 BV) vorhanden gewesen wäre, welches eine Einschränkung des Grundrechts ermöglicht hätte. Insbesondere die Akteneinsichtsverordnung der obersten Gerichte (AEV, LS 211.15) könne nicht herangezogen werden:
Bei schwerer oder wiederholter schuldhafter Pflichtverletzung oder bei Missachtung der Berichtigungspflicht gemäss § 125 GOG kann die Zulassungsbehörde die folgenden Sanktionen ergreifen: (i) Verwarnung; (ii) Suspendierung für längstens drei Monate; (iii) Entzug der Zulassung. […] Zulassungsbehörde ist grundsätzlich die Verwaltungskommission des Obergerichts (§ 10 Abs. 3 AEV), weshalb Pflichtverstösse vom betreffenden Gericht denn auch dem Obergericht zu melden sind. Der Einzelrichter, vor dem die erstinstanzliche Hauptverhandlung stattfindet, ist für die Sanktionierung somit nicht zuständig. § 12 Abs. 2 AEV sieht als Sanktion zudem keine Busse vor […] (E. 3.5.).
Vergleiche auch die Berichterstattung im Tages Anzeiger vom 1. Dezember 2015.