Im zur amtlichen Publikation vorgesehenen Urteil vom 16. Juni 2016 äusserte sich das BGer zur Entbindung eines Arztes vom Berufsgeheimnis. Einige Tage nach der Geburt ihres Kindes starb D., welche zuvor positiv auf HIV getestet wurde, an den Folgen einer Lungenentzündung. Der Ehemann und das Kind von D. strengten einen Haftpflichtprozess gegen die behandelnde Ärztin, Dr. med. A., an. In diesem Haftpflichtprozess tauchte die Frage auf, ob die Eheleute anlässlich der ersten Konsultation bei Dr. med. A. einen HIV-Test als unnötig bezeichnet hatten. Zur Beantwortung dieser Frage beantragte Dr. med. A., Prof. Dr. med. E. als Zeugen einzuvernehmen, weshalb dieser das Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen um Entbindung vom Berufsgeheimnis ersuchte. Das BGer heisst eine Beschwerde von Dr. med. A. gegen das vorinstanzliche Urteil gut und bestätigt die Verfügung des Gesundheitsdepartements, wonach Prof. Dr. med. E. vom Berufsgeheimnis zu entbinden sei.
Zunächst klärt das BGer die Frage, ob zwischen Prof. Dr. med. E. und dem Ehemann von D. überhaupt ein Arzt-Patienten-Verhältnis entstanden ist. Sofern dies nicht der Fall sei, müsse gemäss Ansicht von Dr. med. A. gar keine Entbindung vom Berufsgeheimnis stattfinden. Das BGer hält fest, dass die von D.’s Ehemann gegenüber Prof. Dr. med. E. gemachten Aussagen nicht im Rahmen eines eigentlichen Therapieverhältnisses erfolgt seien, aber dennoch einen konkreten medizinischen Sachverhalt (HIV-Testergebnis von D.) beträfen und im Verlauf eines Gesprächs erfolgt seien, welches Prof. Dr. med. E. in seiner Eigenschaft als Arzt geführt habe. Als Konsequenz unterliege der Gesprächsinhalt deshalb — so das BGer — dem Berufsgeheimnis, unabhängig davon, ob ein Behandlungsvertrag zwischen Prof. Dr. med. E. und D.’s Ehemann abgeschlossen worden sei.
Sodann prüft das BGer, ob die Vorinstanz zu Recht die Entbindung vom Berufsgeheimnis verweigert hat. Dr. med. A. bringt in diesem Zusammenhang vor, dass der Vorwurf im Haftpflichtprozess, wonach sie für den Tod einer Patientin verantwortlich sei, eine Persönlichkeitsverletzung i.S.v. Art. 28 ZGB darstelle. Das Interesse an der Beseitigung dieser Persönlichkeitsverletzung sei stärker zu gewichten als das Geheimhaltungsinteresse von D.’s Ehemann. Das BGer kommt zum Schluss, dass es sich beim Geheimnisherrn um einen Kläger in einem Zivilprozess handle. Man müsse sich daher fragen,
ob nicht der Kläger, der sich einer Entbindung vom Berufsgeheimnis widersetzt und dadurch der Gegenpartei einen ihr obliegenden Beweis verunmöglicht, sich rechtsmissbräuchlich verhält […]. Vorliegend wirft der Kläger (hier Beschwerdegegner) der Beklagten (hier Beschwerdeführerin) vor, für den Tod seiner Ehefrau verantwortlich zu sein. In dem von ihm diesbezüglich selber angestrengten Zivilprozess beruft er sich — ohne hierfür konkrete Gründe glaubhaft oder eigene Schutzinteressen geltend zu machen — in rein abstrakter Weise […] auf das Berufsgeheimnis des Zeugen Prof. E. […]. Ein solchen Verhalten verdient keinen Schutz und ist nicht erst im Zivilprozess, sondern bereits im Entbindungsverfahren — ansonsten dieses seines Sinnes entleert würde — zu berücksichtigen [E. 5.7.].
Abschliessend hält das BGer fest, dass die Entbindung vom Berufsgeheimnis auf das prozessrelevante Thema zu beschränken sei und nicht die ganze Krankengeschichte von D. beschlage.