2C_215/2015: Entbindung eines Arztes vom Berufsgeheimnis / Berufung auf Arztgeheimnis im Haftpflichtprozess rechtsmissbräuchlich (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil vom 16. Juni 2016 äusserte sich das BGer zur Ent­bindung eines Arztes vom Beruf­s­ge­heim­nis. Einige Tage nach der Geburt ihres Kindes starb D., welche zuvor pos­i­tiv auf HIV getestet wurde, an den Fol­gen ein­er Lun­genentzün­dung. Der Ehe­mann und das Kind von D. strengten einen Haftpflicht­prozess gegen die behan­del­nde Ärztin, Dr. med. A., an. In diesem Haftpflicht­prozess tauchte die Frage auf, ob die Eheleute anlässlich der ersten Kon­sul­ta­tion bei Dr. med. A. einen HIV-Test als unnötig beze­ich­net hat­ten. Zur Beant­wor­tung dieser Frage beantragte Dr. med. A., Prof. Dr. med. E. als Zeu­gen einzu­vernehmen, weshalb dieser das Gesund­heits­de­parte­ment des Kan­tons St. Gallen um Ent­bindung vom Beruf­s­ge­heim­nis ersuchte. Das BGer heisst eine Beschw­erde von Dr. med. A. gegen das vorin­stan­zliche Urteil gut und bestätigt die Ver­fü­gung des Gesund­heits­de­parte­ments, wonach Prof. Dr. med. E. vom Beruf­s­ge­heim­nis zu ent­binden sei.

Zunächst klärt das BGer die Frage, ob zwis­chen Prof. Dr. med. E. und dem Ehe­mann von D. über­haupt ein Arzt-Patien­ten-Ver­hält­nis ent­standen ist. Sofern dies nicht der Fall sei, müsse gemäss Ansicht von Dr. med. A. gar keine Ent­bindung vom Beruf­s­ge­heim­nis stat­tfind­en. Das BGer hält fest, dass die von D.’s Ehe­mann gegenüber Prof. Dr. med. E. gemacht­en Aus­sagen nicht im Rah­men eines eigentlichen Ther­a­piev­er­hält­niss­es erfol­gt seien, aber den­noch einen konkreten medi­zinis­chen Sachver­halt (HIV-Testergeb­nis von D.) beträfen und im Ver­lauf eines Gesprächs erfol­gt seien, welch­es Prof. Dr. med. E. in sein­er Eigen­schaft als Arzt geführt habe. Als Kon­se­quenz unter­liege der Gesprächsin­halt deshalb — so das BGer — dem Beruf­s­ge­heim­nis, unab­hängig davon, ob ein Behand­lungsver­trag zwis­chen Prof. Dr. med. E. und D.’s Ehe­mann abgeschlossen wor­den sei.

Sodann prüft das BGer, ob die Vorin­stanz zu Recht die Ent­bindung vom Beruf­s­ge­heim­nis ver­weigert hat. Dr. med. A. bringt in diesem Zusam­men­hang vor, dass der Vor­wurf im Haftpflicht­prozess, wonach sie für den Tod ein­er Pati­entin ver­ant­wortlich sei, eine Per­sön­lichkeitsver­let­zung i.S.v. Art. 28 ZGB darstelle. Das Inter­esse an der Besei­t­i­gung dieser Per­sön­lichkeitsver­let­zung sei stärk­er zu gewicht­en als das Geheimhal­tungsin­ter­esse von D.’s Ehe­mann. Das BGer kommt zum Schluss, dass es sich beim Geheimnish­er­rn um einen Kläger in einem Zivil­prozess han­dle. Man müsse sich daher fragen,

ob nicht der Kläger, der sich ein­er Ent­bindung vom Beruf­s­ge­heim­nis wider­set­zt und dadurch der Gegen­partei einen ihr obliegen­den Beweis verun­möglicht, sich rechtsmiss­bräuch­lich ver­hält […]. Vor­liegend wirft der Kläger (hier Beschw­erdegeg­n­er) der Beklagten (hier Beschw­erde­führerin) vor, für den Tod sein­er Ehe­frau ver­ant­wortlich zu sein. In dem von ihm dies­bezüglich sel­ber angestrengten Zivil­prozess beruft er sich — ohne hier­für konkrete Gründe glaub­haft oder eigene Schutz­in­ter­essen gel­tend zu machen — in rein abstrak­ter Weise […] auf das Beruf­s­ge­heim­nis des Zeu­gen Prof. E. […]. Ein solchen Ver­hal­ten ver­di­ent keinen Schutz und ist nicht erst im Zivil­prozess, son­dern bere­its im Ent­bindungsver­fahren — anson­sten dieses seines Sinnes entleert würde — zu berück­sichti­gen [E. 5.7.].

Abschliessend hält das BGer fest, dass die Ent­bindung vom Beruf­s­ge­heim­nis auf das prozess­rel­e­vante The­ma zu beschränken sei und nicht die ganze Krankengeschichte von D. beschlage.