Im zur amtlichen Publikation vorgesehenen Urteil vom 10. April 2017 äusserte sich das BGer zu einer im Rahmen eines Produktkontrollverfahrens ergangenen Verfügung der SUVA. Das Verfahren gegen die A. AG wurde eröffnet, weil diese sogenannte Schnellwechseleinrichtungen (im Folgenden “SWE”) des Typs xx in Verkehr brachte. Derartige SWE führten gemäss Ansicht der SUVA zu zwei tragischen Unfällen. Am 13. März 2014 verfügte die SUVA wie folgt:
Der A. AG wird das weitere Inverkehrbringen […] von Schnellwechseleinrichtungen xx und vergleichbare SWE […] ab dem 01.01.2016 verboten, solange diese nicht der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG, insbesondere nicht den Anforderungen gemäss Erwägung 2.1–2.5 entsprechen.
In den Erwägungen 2.1–2.5 führte die SUVA u.a. aus, dass die SWE die Norm SN EN 474–1, welche die Maschinenrichtlinie teilweise konkretisiere, einhalte. Die Norm SN EN 474–1 decke jedoch nicht alle Risiken ab. Insbesondere könne durch eine fehlerhafte Verriegelung der SWE in Kombination mit einem Fehlverhalten des Maschinenführers das Anbaugerät herunterfallen. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde der A. AG guthiess, gelangten die SUVA und das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) an das BGer. Das BGer tritt auf die Beschwerde der SUVA nicht ein, heisst die Beschwerde des WBF aber gut.
Vorab verneint das BGer die Beschwerdelegitimation der SUVA. Sie sei im vorliegenden Fall nicht gleich oder ähnlich wie eine Privatperson betroffen. Vielmehr handle es sich bei ihr um die verfügende Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts, welche gegen den sie desavouierenden Entscheid nicht an das BGer gelangen könne.
Nach einer ausführlichen Auslegeordnung zum Zusammenspiel zwischen dem Bundesgesetz über die Produktesicherheit (PrSG; SR 930.11), dem Bundesgesetz über die technischen Handelshemmnisse (THG; SR 946.51) und der EU-Maschinenrichtlinie (MRL; Richtlinie 2006/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Maschinen und zur Änderung der Richtlinie 95/16/EG, Abl. L. 157 vom 9.6.2006), legt das BGer das für den vorliegenden Fall relevante Prüfprogramm dar:
In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das streitbetroffene Produkt die in einer bezeichneten Norm enthaltenen Anforderungen einhält […]. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob die Risiken, welche die SUVA mit ihrer Verfügung avisiert, von der Norm erfasst sind […]; ist dies zu verneinen, muss die Beschwerdegegnerin die Einhaltung der Sicherheitsanforderungen nachweisen; ist es zu bejahen, greift die Konformitätsvermutung gemäss Art. 5 Abs. 2 PrSG. In diesem Fall ist in einem dritten Schritt zu prüfen, ob diese Vermutung widerlegt ist […]. Da das streitbetroffene Produkt in der EU nach EU-Vorschriften hergestellt worden ist, ist in einem vierten Schritt zu fragen, welchen Einfluss das MRA (Mutual Recognition Agreement; SR 0.946.526.81) auf den nationalen Entscheid hat, wenn die Vermutung widerlegt ist. Schliesslich ist in einem fünften Schritt zu entscheiden, welcher Grad von Konkretheit positiver behördlicher Anordnungen zulässig ist […]. (E. 5.8.)
Das BGer beantwortet die aufgeworfenen Fragen wie folgt:
- (1) die streitbetroffene Maschine hält die Norm SN EN 474–1 ein (E. 6.).
- (2) das Risiko einer unkorrekten Verriegelung der SWE ist von der Norm SN EN 474–1 abgedeckt. Es gilt die Konformitätsvermutung gemäss Art. 5 Abs. 2 PrSG (E. 7.).
- (3) die Konformitätsvermutung gemäss Art. 5 Abs. 2 PrSG ist im vorliegenden Fall widerlegt, denn die Norm SN EN 474–1 verlangt keine Integration der Sicherheit in Konstruktion und Bau der Maschine für vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendungen. Insofern berücksichtigt die Norm einen fundamentalen Aspekt der grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen nicht (E. 8.).
- (4) das MRA steht der Vermutungswiderlegung nicht entgegen (E. 9.).
- (5) es liegt in der Kompetenz des Herstellers zu entscheiden, wie bzw. mit welcher baulichen Massnahme, sofern diese zumutbar ist, der Mangel zu beseitigen ist. Nach Beseitigung des Mangels kann das Produkt wieder selbstverantwortlich in Verkehr gebracht werden (Prinzip der regulierten Selbstregulierung).
Das BGer heisst die Beschwerde des WBF gut und hebt das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf.
Vgl. dazu auch die Medienmitteilung des BGer vom 9. Oktober 2017.