2C_75/2016, 2C_76/2016: Verkaufsverbot für Schnellwechseleinrichtungen / Tragweite der Norm SN EN 474–1 (amtl. Publ.)

Im zur amtlichen Pub­lika­tion vorge­se­henen Urteil vom 10. April 2017 äusserte sich das BGer zu ein­er im Rah­men eines Pro­duk­tkon­trol­lver­fahrens ergan­genen Ver­fü­gung der SUVA. Das Ver­fahren gegen die A. AG wurde eröffnet, weil diese soge­nan­nte Schnell­wech­se­lein­rich­tun­gen (im Fol­gen­den “SWE”) des Typs xx in Verkehr brachte. Der­ar­tige SWE führten gemäss Ansicht der SUVA zu zwei tragis­chen Unfällen. Am 13. März 2014 ver­fügte die SUVA wie folgt:

Der A. AG wird das weit­ere Inverkehrbrin­gen […] von Schnell­wech­se­lein­rich­tun­gen xx und ver­gle­ich­bare SWE […] ab dem 01.01.2016 ver­boten, solange diese nicht der Maschi­nen­richtlin­ie 2006/42/EG, ins­beson­dere nicht den Anforderun­gen gemäss Erwä­gung 2.1–2.5 entsprechen.

In den Erwä­gun­gen 2.1–2.5 führte die SUVA u.a. aus, dass die SWE die Norm SN EN 474–1, welche die Maschi­nen­richtlin­ie teil­weise konkretisiere, ein­halte. Die Norm SN EN 474–1 decke jedoch nicht alle Risiken ab. Ins­beson­dere könne durch eine fehler­hafte Ver­riegelung der SWE in Kom­bi­na­tion mit einem Fehlver­hal­ten des Maschi­nen­führers das Anbaugerät herun­ter­fall­en. Nach­dem das Bun­desver­wal­tungs­gericht eine Beschw­erde der A. AG guthiess, gelangten die SUVA und das Eid­genös­sis­che Departe­ment für Wirtschaft, Bil­dung und Forschung (WBF) an das BGer. Das BGer tritt auf die Beschw­erde der SUVA nicht ein, heisst die Beschw­erde des WBF aber gut.

Vor­ab verneint das BGer die Beschw­erdele­git­i­ma­tion der SUVA. Sie sei im vor­liegen­den Fall nicht gle­ich oder ähn­lich wie eine Pri­vat­per­son betrof­fen. Vielmehr han­dle es sich bei ihr um die ver­fü­gende Vorin­stanz des Bun­desver­wal­tungs­gerichts, welche gegen den sie desavouieren­den Entscheid nicht an das BGer gelan­gen könne.

Nach ein­er aus­führlichen Ausle­ge­ord­nung zum Zusam­men­spiel zwis­chen dem Bun­des­ge­setz über die Pro­duk­tesicher­heit (PrSG; SR 930.11), dem Bun­des­ge­setz über die tech­nis­chen Han­delshemm­nisse (THG; SR 946.51) und der EU-Maschi­nen­richtlin­ie (MRL; Richtlin­ie 2006/42/EG des Europäis­chen Par­la­ments und des Rates vom 17. Mai 2006 über Maschi­nen und zur Änderung der Richtlin­ie 95/16/EG, Abl. L. 157 vom 9.6.2006), legt das BGer das für den vor­liegen­den Fall rel­e­vante Prüf­pro­gramm dar:

In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das stre­it­be­trof­fene Pro­dukt die in ein­er beze­ich­neten Norm enthal­te­nen Anforderun­gen ein­hält […]. In einem zweit­en Schritt ist zu prüfen, ob die Risiken, welche die SUVA mit ihrer Ver­fü­gung avisiert, von der Norm erfasst sind […]; ist dies zu verneinen, muss die Beschw­erdegeg­ner­in die Ein­hal­tung der Sicher­heit­san­forderun­gen nach­weisen; ist es zu beja­hen, greift die Kon­for­mitätsver­mu­tung gemäss Art. 5 Abs. 2 PrSG. In diesem Fall ist in einem drit­ten Schritt zu prüfen, ob diese Ver­mu­tung wider­legt ist […]. Da das stre­it­be­trof­fene Pro­dukt in der EU nach EU-Vorschriften hergestellt wor­den ist, ist in einem vierten Schritt zu fra­gen, welchen Ein­fluss das MRA (Mutu­al Recog­ni­tion Agree­ment; SR 0.946.526.81) auf den nationalen Entscheid hat, wenn die Ver­mu­tung wider­legt ist. Schliesslich ist in einem fün­ften Schritt zu entschei­den, welch­er Grad von Konkretheit pos­i­tiv­er behördlich­er Anord­nun­gen zuläs­sig ist […]. (E. 5.8.)

Das BGer beant­wortet die aufge­wor­fe­nen Fra­gen wie folgt:

  • (1) die stre­it­be­trof­fene Mas­chine hält die Norm SN EN 474–1 ein (E. 6.).
  • (2) das Risiko ein­er unko­r­rek­ten Ver­riegelung der SWE ist von der Norm SN EN 474–1 abgedeckt. Es gilt die Kon­for­mitätsver­mu­tung gemäss Art. 5 Abs. 2 PrSG (E. 7.).
  • (3) die Kon­for­mitätsver­mu­tung gemäss Art. 5 Abs. 2 PrSG ist im vor­liegen­den Fall wider­legt, denn die Norm SN EN 474–1 ver­langt keine Inte­gra­tion der Sicher­heit in Kon­struk­tion und Bau der Mas­chine für vernün­ftiger­weise vorherse­hbare Fehlanwen­dun­gen. Insofern berück­sichtigt die Norm einen fun­da­men­tal­en Aspekt der grundle­gen­den Sicher­heits- und Gesund­heit­san­forderun­gen nicht (E. 8.).
  • (4) das MRA ste­ht der Ver­mu­tungswider­legung nicht ent­ge­gen (E. 9.).
  • (5) es liegt in der Kom­pe­tenz des Her­stellers zu entschei­den, wie bzw. mit welch­er baulichen Mass­nahme, sofern diese zumut­bar ist, der Man­gel zu beseit­i­gen ist. Nach Besei­t­i­gung des Man­gels kann das Pro­dukt wieder selb­stver­ant­wortlich in Verkehr gebracht wer­den (Prinzip der reg­ulierten Selbstregulierung).

Das BGer heisst die Beschw­erde des WBF gut und hebt das Urteil des Bun­desver­wal­tungs­gerichts auf.

Vgl. dazu auch die Medi­en­mit­teilung des BGer vom 9. Okto­ber 2017.