Im vorliegenden, zur amtlichen Publikation bestimmten Urteil hatte das Bundesgericht zu entscheiden, ob sich das Gemeinwesen, welches Unterhaltsbeiträge bevorschusst hat und nun beim Unterhaltsschuldner einfordert, in einer Einkommenspfändung auf das sog. Vorfahrprivileg berufen kann.
Beim Vorfahrprivileg handelt es sich gemäss Bundesgericht „um ein von der bundesgerichtlichen Praxis entwickeltes Vorrecht, welches der erleichterten Vollstreckung von Unterhaltsbeiträgen dient. Es handelt sich […] um ein echtes Privileg in der Pfändung, welches von Art. 219 SchKG zu unterscheiden ist […] Zweck dieses Privilegs ist einzig die Sicherung des unmittelbaren Bedarfs für den Unterhaltsberechtigten und nicht die Bestrafung des säumigen Unterhaltsschuldners […] Ausgangspunkt ist, dass sich der Unterhaltsgläubiger zwar eine vorgehende Einkommenspfändung grundsätzlich entgegenhalten zu lassen hat. Wurden die im letzten Jahr vor Einleitung der Betreibung verfallenen Unterhaltsbeiträge jedoch nicht in die Berechnung des Existenzminimums einbezogen, so liegt ein Ausnahmefall vor und greift das Privileg: Das Betreibungsamt muss nun in der neuen Betreibung den Betrag pfänden, auf den es diese Unterhaltspflicht in der ersten Betreibung geschätzt hätte. Damit wirkt sich die nun in Betreibung gesetzte Unterhaltsschuld unmittelbar notbedarfserhöhend aus […]“ (E. 3.2.).
Nach Darstellung der Materialien, der kantonalen Praxis und der Lehre (E. 3.3.–3.6.) und einem Vergleich mit anderen Privilegien (E. 3.7.1.–3.7.2.) kam das Bundesgericht gestützt auf Sinn und Zweck des Vorfahrprivilegs – nämlich Sicherung des Unterhalts des Berechtigten (E. 3.7.3.), nicht erleichtertes Inkasso oder Bestrafung des säumigen Schuldners – zum Schluss, dass sich das Gemeinwesen nicht darauf berufen könne (E. 3.7.3. in fine; E. 3.7.4. und E. 3.8.; Hervorhebung hinzugefügt):
„So wenig das Gemeinwesen im Rahmen der Pfändung einen Eingriff in das Existenzminimum des Schuldners verlangen darf, wie dies aber dem ursprünglichen Unterhaltsgläubiger aufgrund der bundesgerichtlichen Praxis möglich ist, so wenig kann es sich auf die Privilegierung für Alimentenforderungen bei vorbestehender Pfändung für andere Forderungen berufen. […] Das Vorfahrprivileg ist als Ausnahmetatbestand — wie dargelegt — in der existenziellen Situation des Unterhaltsberechtigten begründet und stellt damit ein höchstpersönliches Recht dar, welches dem Gemeinwesen nicht zukommen kann. […] Da [das Vorfahrprivileg] mit Blick auf den Zweck (Vermeidung einer Notlage des Unterhaltsgläubigers) untrennbar mit der Person des ursprünglichen Unterhaltsgläubigers verknüpft ist (Art. 170 Abs. 1 OR), geht die Privilegierung der Alimentenforderungen bei vorbestehender Pfändung nicht auf das bevorschussende Gemeinwesen (Art. 289 Abs. 2 ZGB) über.“