4A_73/2019: Dauer der Übergangsfrist für einen Berufswechsel bei einer VVG-Krankentaggeldversicherung

In diesem Entscheid vom 29. Juli 2019 hat­te das Bun­des­gericht die Beschw­erde ein­er Ver­sicherung im Zusam­men­hang mit ein­er dem VVG unter­ste­hen­den kollek­tiv­en Kranken­taggeld­ver­sicherung zu beurteilen. Stre­it­ig war zwis­chen den Parteien vor Bun­des­gericht noch, welche Über­gangs­frist die Ver­sicherung dem Arbeit­nehmer vor Ein­stel­lung ihrer Leis­tun­gen zu gewähren hat. Das Bun­des­gericht bestätigte die Anwend­barkeit der von Art. 21 Abs. 4 ATSG entwick­el­ten Grund­sätze auch im Bere­ich der Taggeld­ver­sicherung nach VVG und die Angemessen­heit ein­er Über­gangs­frist von 3.5 bzw. 4 Monat­en, um mit­tels eines Beruf­swech­sels eine dem Lei­den bess­er angepasste Tätigkeit aufzunehmen. Die Über­gangs­frist dient nicht nur der Umschu­lung, son­dern vielmehr generell der Anpas­sung und Stellensuche.

Dem Entscheid lag fol­gen­der Sachver­halt zugrunde:

Der Arbeit­nehmer war seit dem 13. Feb­ru­ar 2014 über seine Arbeit­ge­berin bei der Beschw­erde­führerin kollek­tiv kranken­taggeld­ver­sichert. Am 26. Okto­ber 2014 meldete die Arbeit­ge­berin eine Arbeit­sun­fähigkeit des Arbeit­nehmers von 100%. Am 21. Mai 2015 kündigte die Arbeit­ge­berin das Arbeitsver­hält­nis mit dem Arbeit­nehmer. Am 10. Novem­ber 2015 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie werde ihre Leis­tun­gen per 1. Jan­u­ar 2016 ein­stellen (ca. 1.5 Monate).

Am 16. Dezem­ber 2015 unter­bre­it­ete die Beklagte eine Schlussabrech­nung mit Taggeldleis­tun­gen bei ein­er Arbeit­sun­fähigkeit von 100% bis 31. Dezem­ber 2015. Daraufhin hielt die Ver­sicherung an der Ein­stel­lung der Taggeldleis­tun­gen per 31. Dezem­ber 2015 fest.

Etwa ein Jahr später reichte der Arbeit­nehmer eine Klage gegen die Ver­sicherung beim Sozialver­sicherungs­gericht des Kan­tons Zürich ein und ver­langte die Zahlung von Kranken­taggeldern  über den 31. Dezem­ber 2015 hin­aus, näm­lich für die Zeit vom 1. Jan­u­ar bis 29. Feb­ru­ar 2016 auf der Basis ein­er Arbeit­sun­fähigkeit von 100% und ab 1. März 2016 ein­er solchen von 40%.

Das Sozialver­sicherungs­gericht hiess die Klage teil­weise gut und verpflichtete die Ver­sicherung, dem Arbeit­nehmer Kranken­taggelder entsprechend ein­er Arbeit­sun­fähigkeit von 100% im Sinne ein­er Über­gangs­frist bis am 29. Feb­ru­ar 2016 zu bezahlen. Es hielt fest, dass gemäss der von der Ver­sicherung ver­an­lassten Beurteilung in der anges­tammten Tätigkeit des Arbeit­nehmers keine Arbeits­fähigkeit mehr bestanden habe, in ein­er den kör­per­lichen Beein­träch­ti­gun­gen angepassten Tätigkeit hinge­gen eine volle Arbeits­fähigkeit. Mithin habe die den Taggel­danspruch begrün­dende Arbeit­sun­fähigkeit in dem Zeit­punkt geen­det, in dem vom Arbeit­nehmer die Auf­nahme ein­er angepassten Tätigkeit habe erwartet wer­den kön­nen. Gemäss Art. 10 Ziff. 3 lit. a der All­ge­meinen Bedin­gun­gen für die Kollek­tiv-Kranken­ver­sicherung (Aus­gabe 2008) der Ver­sicherung („AB“) habe die ver­sicherte Per­son zur Schaden­min­derung ihre bish­erige Tätigkeit anzu­passen oder eine andere zumut­bare Tätigkeit auszuüben, wozu sie unter Anset­zung ein­er angemesse­nen Frist aufge­fordert werde (E. 3.1). Recht­sprechungs­gemäss seien gemäss dem Sozialver­sicherungs­gericht die im Rah­men von Art. 21 Abs. 4 ATSG entwick­el­ten Grund­sätze auch im Bere­ich der Taggeld­ver­sicherung nach VVG anwend­bar. Für die zu beurteilende Frage – welche Frist für einen (schadens­min­dern­den) Beruf­swech­sel als angemessen gelte – könne zudem auf die Prax­is zu Art. 6 Satz 2 ATSG zur im Wesentlichen gle­ichen Fragestel­lung zurück­ge­grif­f­en wer­den: Wenn von der ver­sicherten Per­son erwartet werde, dass sie mit­tels eines Beruf­swech­sels eine ihrem Lei­den bess­er angepasste Tätigkeit aufnehme, sei ihr dafür eine Über­gangs­frist von 3–5 Monat­en […] bzw. “üblicher­weise” 4 Monat­en […] einzuräumen.

Das Sozialver­sicherungs­gericht ver­warf den Stand­punkt der Ver­sicherung, wonach die Über­gangs­frist unter­schrit­ten wer­den könne, da dem Arbeit­nehmer die Dien­ste der Arbeit­slosen­ver­sicherung zur Ver­fü­gung stün­den (E. 3.1).

Gegen diesen Entscheid erhob die Ver­sicherung Beschw­erde vor Bun­des­gericht. Gegen den Entscheid der Vorin­stanz wen­dete sie u.a. ein, dass der Arbeit­nehmer kein­er Umschu­lung bedürfe, da er diese bere­its im Sep­tem­ber 2011 mit sehr gutem Erfolg abgeschlossen habe. Es habe auch kein aufzulösendes Arbeitsver­hält­nis bestanden, welch­es die Über­gangs­frist recht­fer­tige. Es wäre vielmehr am Arbeit­nehmer gewe­sen, im Rah­men sein­er Schaden­min­derungspflicht gemäss Art. 61 Abs. 1 VVG (konkretisiert in Art. 10 Zif­fer 3 lit. b. AB) seine Ansprüche gegenüber der Arbeit­slosen­ver­sicherung – der zuständi­gen Sozialver­sicherungsstelle – anzumelden.

Das Bun­des­gericht erwog, dass es sich bei der Bemes­sung der Über­gangs­frist für einen Beruf­swech­sel um einen Ermessensentscheid han­dle, den das Bun­des­gericht grund­sät­zlich frei prüft, wobei es nur in Aus­nah­me­fällen ein­schre­ite (E. 3.3.1). Es bestätigte die Aus­führun­gen der Vorin­stanz und ver­warf die Rüge der Versicherung:

Zusam­men mit der Abmah­nung zum Beruf­swech­sel muss dem Ver­sicherten eine angemessene Über­gangs­frist eingeräumt wer­den, während der­er er sich anpassen und eine neue Stelle find­en kann. Wie die Vorin­stanz zu Recht fes­thält, hat sich in der sozialver­sicherungsrechtlichen Recht­sprechung dies­bezüglich eine Frist von 3–5 Monat­en etabliert, welche auch im Rah­men von Kranken­taggeld­ver­sicherun­gen Gültigkeit beansprucht […]. (E. 3.3.2)

[Die] zu gewährende Über­gangs­frist dient nicht nur der Umschu­lung, son­dern vielmehr generell der Anpas­sung und Stel­len­suche […]. Aus dem Zweck der Über­gangs­frist fol­gt, dass während dieser Frist Taggelder weit­er­hin gemäss der Arbeit­sun­fähigkeit im anges­tammten Beruf zu leis­ten sind […]. (E. 3.3.3)

In Bezug auf das Vor­brin­gen der Ver­sicherung, der Arbeit­nehmer hätte sich bei der Arbeit­slosen­ver­sicherung melden müssen, erwog das Bun­des­gericht, dass nach Art. 28 Abs. 2 AVIG auch pri­vate Kranken­taggelder von der Arbeit­slose­nentschädi­gung abge­zo­gen wer­den, sodass die Rüge fehlge­he. Die zu gewährende Über­gangs­frist von prax­is­gemäss 3–5 Monat­en könne jeden­falls vor­liegend nicht mit dem Argu­ment unter­schrit­ten wer­den, die Ver­sicherung hätte den Arbeit­nehmer der Arbeit­slosen­ver­sicherung zuweisen kön­nen. Auf jeden Fall mache die Ver­sicherung nicht rechts­genü­gend gel­tend, der Arbeit­nehmer hätte den Beruf­swech­sel bzw. die Erzielung von Erwerb­seinkom­men tor­pediert (E. 3.3.4).